Das Mädchen mit dem grauen Haar

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„Ich nehme an, du kennst du Regeln?" Von seinem Meditationskissen aus beäugt mich Eleos skeptisch. „Kein Eingreifen. Keine unnötigen Gespräche. Sehen und Gehen."

„Sehen und gehen", wiederhole ich wie ein artiges Schuldmädchen. „Ist verstanden."

Eleos nickt, immer noch nicht ganz überzeugt. Vielleicht glaubt er jemand, der sich nicht an die Regeln seines Handels halten kann, wird sich auch in der Vergangenheit nicht benehmen können. Von mir aus braucht er da jedenfalls keine Angst zu haben. Für mich steht zu viel auf dem Spiel. Ich werd's nicht verhauen. Diesmal nicht.

„Du solltest diesen Umhang ablegen", sagt er und deutet auf den Mantel der Priorin. „Meine Nymphen werden ihn zu deinem Gefährten an die Oberfläche bringen." Dann hebt er eine Hand und trennt mit dem Fingernagel eine graue Strähne aus seinem Bart.

Eine seiner Nymphen kommt zu mir. Sie duftet nach frischen Orangen und als sie mir die Strähne ins Haar flicht fühle ich mich auf merkwürdige Weise an frühere Italienurlaube erinnert.

„Mit jeder Minute, die du in der Vergangenheit verbringst wird sich diese Strähne mehr und mehr auflösen. Wenn sie ganz verschwunden ist, heißt das, deine Zeit ist abgelaufen."

„Alles klar, Chef."

Eleos betrachtet mich zwar immer noch mit dem Lass mich das später nicht bereuen-Blick, aber immerhin verkneift er sich einen bissigen Kommentar. „Bei deiner Rückkehr in unsere Zeit wirst du gleich im Kolleg landen. Für uns heißt es an dieser Stelle Lebewohl."

„Dann danke ich Euch. Auch für die Ohrringe."

Eleos neigt den Kopf. „Ich habe zu danken. In gewisser Weise war die Unterhaltung mit dir schon...Unterhaltung. Neuheit. Ich mag alt und klug sein, aber an Weisheit bist du mir mit deinen jungen Jahren überlegen. Wer hätte das gedacht?"

Ich gluckse. „Na, ich sicher nicht."

Er lächelt. Dann schließt er die Augen, sinkt tiefer in sein Meditationskissen. „Auf Wiedersehen, Lina von Stormglen. Möge dein Blick in die Vergangenheit so klar sein, wie der in die Zukunft."

Ich spüre flaues Gefühl im Magen, wie als würde jemand mit einem Anglerharken an meinem Bauchnabel ziehen. Mir wird schwindelig, der Boden dreht sich unter meinen Füßen. Ameisen krabbeln über mein Sichtfeld, bis ich auf einmal außer Schwarzer Hitze gar nichts mehr wahrnehme. Es fühlt sich an, als würde ich durch einen viel zu engen dunklen Tunnel viel zu schnell nach oben gepresst.

Dann rauscht ein Schwall kalter Luft auf mein Gesicht, überzeiht meinen Rücken mit Gänsehaut. Ich schlage die Augen auf.

Über mir erstreckt sich ein gold-blauer Sternenhimmel. Es braucht ein paar Wimpernschläge, bis ich begreife, dass es nicht der echte Himmel, sondern eine bemalte Gewölbedecke ist. Die Decke der Eingangshalle von Stormglen Manor.

Offenbar hat sich das Herrenhaus in den vergangenen sechzehn Jahren nicht sonderlich verändert. Die Teppiche am Boden haben eine andere Farbe und an den Wänden hängen ein paar Fotos weniger, aber das sind auch schon die einzigen Indizien dafür, dass ich mich in einer anderen Zeit befinden muss.

Ich bin allein in der Halle. Das ist an sich schon merkwürdig, normalerweise herrscht hier tagsüber ein ständiges Kommen und Gehen. Die Türen zum Refektorium stehen weit geöffnet, aber selbst der Speisesaal ist verwaist. Kein Wunder wahrscheinlich, bei dem Event, das ein Stockwerk höher gerade stattfindet. Jeder, der in Fabelreich irgendwas auf sich hält wird damals bei Damons Prozess gewesen sein. Die Wächter wollten mit eigenen Augen sehen, wie der Mann verurteilt wurde, der gegen das Kolleg in die Schlacht gezogen und von den eigenen Leuten verraten worden war. Der Mann, der sie alle unterwerfen und beherrschen wollte. Besonders gnädig werden sie nicht mit ihm gewesen sein. Ich kann mir die Atmosphäre im Kapitelsaal schon vorstellen. Hasserfüllt und feindselig.

Plötzlich höre ich oben auf der Galerie Schritte.

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