Maulwürfe und Giftschlangen (2)

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Schritt eins im Plan: wir machen uns über den Rest des Essens her. Wenn alles klappt, dann werden wir unsere Kräfte brauchen, das überzeugt sogar Mo. Wir verputzen alles bis auf den letzten Krümel.

Mit einer Ausnahme. Ich verteile das Limettenwasser mit Milkweed in unsere Kelche, tatsche ein bisschen auf dem Glas herum, damit es benutzt aussieht und kippe alles aus dem Fenster. Zuletzt arrangieren wir das Geschirr wieder auf dem Tisch.

Mo wirft mir einen Blick zu: „Bereit?"

Ich nicke.

Er geht zur Tür, klopft. „Hallo? Wir wären jetzt fertig mit dem Essen."

Einen Moment lang herrscht Stille. Dann hören wir einen Schlüsselbund klappern. Das Schloss klickt und die schwere Eichenholztür öffnet sich einen vorsichtigen Spalt breit. Sicherheitshalber tritt Mo ein paar Schritte zurück, als sich Arachnes Kopf durch die Lücke zwängt. Ihr Blick sucht zuerst uns, erst danach fällt er auf die leeren Teller.

Und auf die Gläser.

Arachne atmet aus, laut, als hätte sie die Luft abgehalten und ihre Schultern entspannen sich. Es ist ein böser Gedanken, ich weiß es, aber noch nie in meinem Leben ist es mir so schwer gefallen, ein Lächeln zu unterdrücken. Teil eins läuft schon mal hervorragend.

Die Tür schwingt auf und Arachne tritt ein. Ich warte, bis sie fast am Tisch ist. Ihre Augen sind fest auf Mo gerichtet, wachsam und vorsichtig. Natürlich. Jeder glaubt, von ihm gehe die größte Gefahr aus.

Sie sieht mich gar nicht, als ich die Hände ausstrecke.

Als meine Lippen de profundis formen.

Als ich in die Schwärze fasse und einen Schatten nach oben zerre.

Auf sie!

Es ist nicht schwer, die nötige Aggression aufzubringen, nicht nach dieser Woche. Der Schatten fegt an ihrem Hinterkopf vorbei, versetzt ihr einen Schlag, bevor er durch das Fenster in die Nacht davonrauscht. Zum Glück ist Arachne schneller bewusstlos, als sie schreien kann. Sie sackt sofort in sich zusammen, doch bevor sie auf die Fliesen schlägt, greift Mo ihr unter die Schultern und lässt sie sachte zu Boden sinken. „Das nenne ich Präzision", sagt er ehe er über ihren reglosen Körper steigt und im Gang verschwindet.

Ich schaue auf die reglose Arachne herab und meine Hand, die den Schatten beschworen hat, beginnt unangenehm zu kribbeln, fast schon zu zittern, als wollte mein Kreislauf schlapp machen.

„Mach dir keine Vorwürfe", höre ich Mos Stimme vom Gang. Mal wieder scheint er meine Gedanken zu lesen. „Es war nötig."

„Das heißt noch lange nicht, dass es auch richtig war", murmele ich. Die Rebellen haben uns festgehalten, ja. Aber immerhin sind wir zu ihnen gekommen. Zwei Wächter des Kollegs, ihre erklärten Feinde. Und sie haben uns wie Gäste, nicht wie Gefangene behandelt. Ich bezweifle, dass Arachne niederzuschlagen eine angemessene Weise ist, ihnen für ihre Gastfreundschaft zu danken.

Mo kommt zurück, in den Armen unsere Winterjacken. Er wirft mir meine zu und trotz der lauen Sommernacht schlüpfe ich sofort hinein, taste nach dem Vertrauten Gewicht meines Portalbuchs.

In der Zwischenzeit hat Mo seines aufgeschlagen. „Besser das klappt", sagt er mit einem flüchtigen Blick auf Arachne. „Sonst stecken wir echt knietief in der Scheiße."

„Beeil dich!" Ich rücke näher an ihn, lege ihm eine Hand auf die Schulter.

Mo holt Luft, greift nach meiner anderen Hand und drückt sie fest. Dann senkt er den Blick auf das Buch und hebt die Stimme. Ich stelle mir vor, wie er ein lebensechtes Bild von Eleanor hinter seinen geschlossenen Auge beschwört, grimmig und stur, als er die Worte spricht: „Nach Hause."

Da ist es wieder, dieses schummrige Gefühl im Magen. Das vertraute Ziehen unter den Füßen, wie wenn der Stöpsel einer riesigen Badewanne geöffnet wird und einem jemand den Boden unter den Füßen wegsaugt. Ich schließe die Augen. Um mich herum strudelt und strudelt es.

Dann wird es still. Der Boden unter meinen Füßen verfestigt sich. Die Welt kippt in ihren Rahmen zurück.

Das erste, was ich spüre, ist der Wind. Eine Böe zerrt an meinen Kleidern, peitscht salzige Spritzer in mein Gesicht, noch ehe ich die Augen öffne kann. Da sind Möwenschreie in der Ferne und ganz nah ein Tosen, als hätte jemand im Schwimmbad die Wellenmaschine angeschmissen. Der Stein unter meinen Füßen fühlt sich weich an, nass wie-

„Was zur Hölle...?"

Ich öffne die Augen. Mo steht direkt neben mir, aber sein Blick geht gerade aus. Es ist nicht Eleanor, die er sieht.

Wir sind an einem Strand. Einem dunklen, kalten, sturmumtosten Strand, eindeutig weder Südsee noch Adria. Ganz in der Nähe ist eine einsame Reihe Ruderboote vertäut, merkwürdig fehl am Platz in dieser Landschaft. Obwohl es Nacht ist, kann ich die alles um uns herum erkennen, jeden noch so kleinsten Umriss. Was auch immer das für ein Stein ist, er ist schwärzer als die Dunkelheit. Hinter uns erheben sich schroffe Klippen. Vor uns brandet das Meer über den Sand, rollt und überschlägt sich. Weiter draußen schauen scharfkantige Felsen aus dem Wasser, krumm wie Trollzähne. Und dahinter...

Eine Burg.

Oder vielmehr die Ruine einer Burg. Sie steht auf den Klippen einer steinernen Insel. Drum herum bricht sich das Meer an den Felsen, lässt die Gischt bis unter die Fenster spritzen. Dutzende spitze Türme ragen daraus hervor, jeder ein Zahn, ein Messer, eine Speerspitze, gespickt mit Fenstern. Und es sind die Fenster, die mir Schauer über die Arme schicken. Die Gitter davor. Die Lichter dahinter.

Sieht aus wie...

„Ein Gefängnis", murmele ich, „Blackwells Gefängnis."

In diesem Moment löst sich etwas von der Spitze eines Turmes, groß und schwarz, begleitet von einem Kreischen, markerschütternd, wie Nägel auf einer Schiefertafel. Der Drache reißt das Maul auf, steigt höher in den dunklen Himmel, spannt seine ledernen Flügel. Dann haben ihn die Wolken verschluckt.

Mein Herz klopft, ein heftiges Hämmern. Diese Echse hat keine Ähnlichkeit mit dem goldenen Drachen im Tal der Älteren. So ein Biest habe ich in keinem meiner Lehrbücher gesehen.

Ich schaue Mo an. Sein Kiefer bewegt sich, mahlt unruhig hin und her.
„Das ist kein Gefängnis mehr", sagt er, „Das ist eine Festung."

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