Der Fremde im Schatten

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Ich wache auf, als mir jemand den Sack vom Kopf zieht und mich auf die Knie drückt. Vielleicht wache ich auch auf, weil mir jemand den Sack vom Kopf zieht und mich auf die Knie drückt, denn dieser jemand tut es mit einer Grobheit, die selbst Tote aufgeweckt hätte. Dummerweise kann ich meine Entführer nicht sehen. Kaum dass der Sack weg ist, bin ich sofort blind. Geblendet vom Tageslicht, das nach so langer Zeit im Dunkeln mein Feind geworden ist. Ich blinzele heftig, aber es dauert, bis sich etwas tut. 

Scheiße, wie lange war ich bewusstlos?

Ich zwinge meine übrigen Sinne, sich anzustrengen. Ein Schwall frischer Luft streift mein Gesicht. Kühl und klar, duftend nach überreifen Nektarinen und Kräutern. Seltsame Mischung, aber ich sauge sie gierig auf, froh den schwülen Dunst des Waldes mit seinen Giftblumen los zu sein.

Bin ich in einem Raum? Auf jeden Fall gibt es ein Fenster. Das Licht muss ja von irgendwo herkommen. Und auch dieses presslufthammerlaute Zirpen. Was ist das? Es klingt wie eine ganze Armee von Grillen. Nein, Zikaden, so heißen die Dinger. Wo habe ich die schon mal gehört? Italien? Spanien?

Dann blinzele ich noch einmal und die Welt nimmt Konturen an.

Ich bin in einem Innenhof. Antike Säulen aus weißem Stein umschließen ihn, die Wände dahinter sind karmesinrot, der Boden von Mosaiken bedeckt. Das sind also diese kleinen Steinchen, die mir die ganze Zeit schon ins Knie drücken. Direkt vor uns ist ein quadratisches Wasserbecken im Boden eingelassen. In seiner stillen Wasseroberfläche spiegeln sich die Äste der Bäume, die in riesigen Terrakotta-Töpfen entlang der Wände stehen. Es sind Oliven und Feigen, der süße Nektarinen Duft stammt offenbar von ihnen. Wie gut, dass ich Latein gewählt habe, denn ich weiß sofort, was das hier ist. Ein Atrium.

Wir sind in einer römischen Villa.

Neben mir kniet Mo. Auch er ist wach und obwohl er die Arme verbunden hat, hält er seinen Oberkörper aufrecht, den Blick entschlossen nach vorn gerichtet, wo jetzt ein Mann aus dem Schatten tritt. Er ist allein, unsere Entführer haben sich hinter die Säulen zurückgezogen, vielleicht um Wache zu halten, falls wir Dummheiten vorhaben.

Mo wartet nicht, bis der Fremde spricht. „Nettes Haus", sagt er und seine Stimme klingt rau vom Schlaf.

„Wie ihr seht, seid ihr nicht die einzigen, denen der Wald Wünsche erfüllt." Der Mann kommt auf uns zu, bis er direkt vor dem Schwimmbecken steht und sich sein Schatten in der Wasseroberfläche spiegelt. „Wir nennen es das Tal der Erstgeborenen. Was für ein Jammer, dass ihr all das wieder vergessen werdet."

Er ist ein Mensch, kein Fabelwesen, so viel steht fest. Zu groß für einen Zwerg und seine Ohren sind rund. Der wilde Bart und die zum Knoten zusammengebunden braunen Haare wären auch untypisch für eine Elfe. Mit der Frisur und seiner hellbraunen Lederjacke ist er eher der Typ Hipster Holzfäller in den kanadischen Rocky Mountains. Wirklich. Ich habe schon genug Liebesfilme gelesen, in denen der Love-Interest genauso aussieht. Fehlt nur noch das karierte Hemd. Das richtige Alter für so einen Film hätte er jedenfalls. Wie alt wird er sein, vielleicht Mitte, Ende dreißig? Oh, und Muskeln hat er auch. Das sieht man sogar durch die Lederjacke. Der Typ sitzt eindeutig nicht den ganzen Tag am Schreibtisch.

„Wir sind noch im geteilten Wald?", fragt Mo. Wenn der Fremde ihn einschüchtert, dann kann er es gut verbergen. „Wo?"

Ein Schmunzeln zieht sich über den Mund des Mannes. „Netter Versuch, Junge."

„Die Blumen", platze ich heraus, „Das waren Sie."

Sein Lächeln wird noch etwas breiter, als er sich mir zuwendet. „Natürlich. Hast du geglaubt, wir stellen Fallen und Netze auf?"

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