Im Auge des Sturms (2)

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Damon hebt eine Braue, den Blick auf die Schatten gerichtet. „Alekto hätte dich besser überwachen sollen. Wie lange hast du schon kein Milkweed mehr zu dir genommen?"

Eleanor lächelt. Es wirkt wie ein Zähneblecken. „Lange genug für dich."

Wenn ich Damon wäre, hätte ich jetzt die Beine in die Hand genommen. Stattdessen grinst er, reizt die Schlange, stachelt sie an, bis zum tödlichen Schlag. „Davon wird sie auch nicht mehr lebendig, Süße."

Und Eleanor rastet aus.

Die Schatten kommen nicht mehr nur aus ihren Händen. Sie entströhmen ihrem gesamten Körper, fließen ihre Hüften und Beine hinunter, bevor sie sich wie eine Horde wilder Schlangen auf Damon stürzen, der im letzten Moment zur Verteidigung einen Schild hochreißt.

Das Schattenmeer übersprudelt den Boden, steigt an, schwappt auf die Stufen zu Damons Thron, brandet gegen seinen Schild. Lange wird er nicht halten.

Eleanors Magie ist stark, eine würdige Gegnerin, selbst für Damon. Hin und wieder kann ich sein Gesicht hinter dem Schild sehen, die Panik darin. Endlich verstehe ich, was Eleanor meinte: Ja, sie ist eine Waffe. Wer auch immer sie auf seiner Seite weiß, kann sich glücklich schätzen. Und wer nicht...der täte gut daran, sie zu vernichten.

Margaret kreischt und der Schild zerbricht.

Eleanor hebt ihre Hände und die Schatten mit ihnen. Ihr Gesicht ist eine Maske aus Grausamkeit und Hohn. Sie formt wieder einen Strudel, eine Art schwarzen Tornado, mit ihr in seinem Zentrum, wie damals beim Rebellenangriff.

„Eleanor!" Ich höre Nicolas schreien, aber seine Worte erreichen sie gar nicht. Sie scheint wie in einem Wahn, gefangen in einer Trance aus Hass und Gewalt.

Um uns herum beginnen die Mauern zu bröckeln. Der Boden unter meinen Füßen bebt.

„Es ist zu viel! Es wird sie umbringen!" Noch immer steht Nicolas neben mir. „Bring dich in Sicherheit! Ich halte sie auf."

„Nicolas-" Ich will ihn am Shirt packen, aber er windet sich los, stolpert auf den Schattentornado zu.

Es ist Selbstmord. Sie wird ihn zerfetzen. Sie wird uns alle zerfetzen, das ganze Gefängnis.

Der Boden fängt an sich zu wölben, die Steinplatten blähen sich auf und platzen knackend auseinander, wie Kürbiskerne in einer heißen Pfanne.

Ich kann Blackwell nicht mehr sehen, Margret auch nicht.

„Eleanor!" Nicolas streckt die Hand aus, greift mitten durch den Tornado.

Stopp! Du hast nicht gesehen, was wir gesehen haben! Sie wird dich töten. Aber die Worte bleiben in meiner wunden, staubigen Kehle stecken.

„Lina!" Eric packt mich von hinten an der Schulter, sein Portalbuch aufgeschlagen. Keine Ahnung, wo er hergekommen ist. „Wir müssen hier raus!"

Nein. Nicht ohne Eleanor. Nicht ohne Nicolas. Wo ist Mo?

Die Schatten haben Nicolas nicht angegriffen. Ich sehe, wie er mitten durch den Sturm tritt, auf Eleanor zu.

Warum verletzen sie ihn nicht? Sind sie allein für Damon bestimmt? Oder gibt es in Eleanor noch einen letzten menschlichen, verstandsgesteuerten Teil, der sie abhält?

Neben mir stürzt die Seitenmauer der Kirche ein, dann das gotische Fenster auf der Stirnseite, zerschmettert Damons dunklen Thron.

Ich habe noch nie einen Krieg erlebt. Aber so stelle ich es mir vor.

Eric zerrt mich auf die Beine. „Lina, komm!"

„El, ich bin's!" Nicolas steht jetzt im Auge des Sturms, direkt vor Eleanor.

Ihr Gesicht ist nah an seinem, aber sie sieht ihn nicht. Ihr Blick geht starr durch ihn hindurch, als würde sie nichts mehr um sie herum wahrnehmen.

„Ich bin's. Nicolas. Du musst kämpfen. Wehr dich dagegen!"

Die Schatten wirbeln in einem schnellen Strudel um sie herum. Eleanor wird von Sekunde zu Sekunde blasser. Ihre Magie, genährt und beherrscht vom Hass, saugt das Leben aus ihr.

„Schau mich an!", schreit Nicolas, jetzt hörbar verzweifelt, während über uns die Mauern zusammenbrechen. „Das bist nicht du, El! Du bist besser als er!"

Ich höre fernes Kreischen von Furien und begreife, dass die ganze Festung in sich zusammenfällt.

Nicolas macht einen Schritt vor. „Komm zu mir zurück!" Dann schlingt er die Arme um Eleanor. „Bitte!"

Einen Moment verharren die beiden so, eng umschlungen im Zentrum des Sturms, die Szene wie eingefroren.

Dann höre ich Eleanors leise Stimme, das ungläubige „Nicolas?".

Im gleichen Moment bricht über uns die Welt zusammen.

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