Nänie für den Frühling (2)

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Ich brauche zwei Anläufe, bis ich das Schlüsselloch treffe. Fluchend kicke ich die Haustüre auf, während ich gleichzeitig Eleanors Schattenumhang unter meine Winterjacke stopfe.

„Lina!"

Im Wohnzimmer brennt schon Licht. Vor den Fenstern geht die Nachmittagssonne unter und Mareike sitzt mit aufgerissenen Augen am Küchentisch davor, neben ihr ein Berg Kartoffelschalen. Von meinem Vater ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich hat er Nachtschicht.

„Wo zur Hölle warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht!"

Bitte! Nichts mehr von der Hölle heute.

Eigentlich müsste ich ihr jetzt eine Lüge auftischen. Eine plausible Erklärung, warum ich gestern nicht nachhause gekommen bin. Aber ich schaffe es nicht. Der Klos in meinem Hals schwillt an, macht das Sprechen fast unmöglich. Alles, was ich kann, ist nicht ganz die Wahrheit sagen.

Ich bleibe mit hängenden Schultern im Türrahmen stehen, ringe um Worte. „Elenas Oma." Meine Stimme klingt so zittrig. Wann habe ich sie das letzte Mal benutzt? „Sie liegt im Sterben. Sie...sie müssen entscheiden, ob sie die Geräte abstellen und..."

Ich muss das entscheiden. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie soll ich das entscheiden? Ich?

Ich kann nicht weitersprechen. Das Ungesagte hämmert gegen meine Kehle, dass mir schlecht wird.

Ich bin schuld, Mareike.

Ich habe sie umgebracht.

Wenn ich nicht um Hilfe gerufen hätte. Wenn ich einmal nachgedacht hätte.

Mareike steht auf, noch immer den Kartoffelschäler in der Hand. Im Hintergrund brodelt ein Topf,  Weihnachtsmusik dröhnt aus den Radio, eine Strophe von We three Kings auf der Irish Christmas Playlist.

Myrrh is mine; its bitter perfume, breathes a life of gathering gloom; sorrowing, sighing, bleeding, dying, sealed in the stone-cold tomb.

Ihre Augen wandern über mein Gesicht. Ich muss schrecklich aussehen. Bleich, zittrig, unterkühlt. „Spaziergang?"

Wir laufen durch die aufziehende Dunkelheit, altes Laub vom Herbst und Schneereste knirschen unter unseren Schuhen, aber es sind die einzigen Geräusche. Mareike zwingt mich nicht zum Reden, hält die Stille mit mir aus, damit ich meine Gedanken sortieren kann und ich bin ihr unendlich dankbar dafür.

Ich glaube, wir haben uns noch nie näher geführt.

Wieder zuhause, bringt sie mich dazu, zwei Teller Gemüsesuppe runterzuwürgen. Ich gehe in die Badewanne, stopfe Eleanors roten Pullover in die Waschmaschine. Er riecht immer noch leicht nach Nelken und Zimt. Den Schattenumhang rühre ich lieber nicht an. 

Dann schauen Mareike und ich zusammen im Wohnzimmer Harry Potter. Die Filme sind mein Zufluchtsort seit Kindertagen. Gerade läuft der sechste Teil, Dumbledore liegt tot zu Füßen des Astronomieturms. Als Harry ihn findet, beginnt er zu weinen.

Aber nicht nur Harry. Die Szene, die Musik brechen etwas in mir auf. Der Klos in meinem Hals löst sich und plötzlich schluchze ich. Tränen fallen aufs Sofa und selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht mehr zurückhalten.

Mareike legt die Arme um mich. „Ist ok, Lina." Es sind die ersten Worte, die sie seit Stunden zu mir sagt. „Manchmal muss man einfach weinen."

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