Schauer und Sterne (1)

870 91 51
                                    

Ach ja, Weihnachten.

Alle Jahre wieder: Glühweinseligkeit, Heimkommen zur Familie, strahlende Kinderaugen. Mal ehrlich, wer gerät da nicht ins Schwärmen?

Nun. Ich.

Ich bin kein Weihnachtsmensch. Um genau zu sein, finde ich diese ganze Zeit einfach nur nervig. Fängt schon an bei den blinkenden Lichterketten, die sich von Jahr zu Jahr in immer schrilleren Farben um die Häuser wickeln. An unserem Hochhaus gibt es einen dieser Plastikweihnachtsmänner, die mit Geschenken bepackt die Fassade hochklettern. Von meinem Fenster aus könnte ich bequem die Seile seiner Leiter durchschneiden und kurz war ich wirklich versucht, aber ich will nicht für eine Horde weinender Kinder verantwortlich sein. So grausam bin ich dann doch nicht.

Am meisten hasse ich die krampfigen Verwandtenbesuche und geheuchelte Herzlichkeit, die kitschigen Werbespots, in denen eins auf heile Familie gemacht wird und Supermärkte, in denen schon seit Anfang November in Dauerschleife Last Christmas und aus der Anlange dröhnt. Ehrlich, wenn ich dieses Lied jetzt noch einmal höre, knalle ich den Radio an die Wand.

Vielleicht liegt es an meiner generellen Abneigung gegen Kitsch. Vielleicht aber auch, weil Weihnachten als das Familienfest gilt und mir an keinem anderen Tag im Jahr so klar wird, dass in meiner Familie jemand fehlt. Es ist ein bisschen wie Muttertag in der Grundschule. Alle anderen Kinder haben in Deutsch voller Begeisterung Karten für ihre Mamas gebastelt. Nur ich stand daneben wie ein Depp und durfte meiner Lehrerin erklären, warum ich weine, statt zu schreiben. Ich erinnere mich noch heute an dieses Gefühl: Traurigkeit, Eifersucht und Scham, in einer einmalig fiesen Kombination. Genauso fühlt sich Weihnachten an.

Dumm nur, dass Papas neue Freundin diese Abneigung nicht teilt. Glasschneidestimme ist eine leidenschaftliche Bäckerin. Seit Wochen schon glotzt uns jeden Abend eine andere Plätzchensorte aus dem Ofen entgegen, während im Fernsehen Weihnachtsmann und Co. KG läuft. Heute ist Heilig Abend, offizieller Höhepunkt der Familienglückseligkeit. Mir graut es jetzt schon vor Spieleabend und Bescherung. Zu allem Überfluss schneit es auch noch. Vor meinem Fenster fliegen in Zeitlupe Flocken von der Konsistenz fluffigem Badeschaums vorbei. Es ist schlimmer als in jedem amerikanischen Kitsch-Film.

Selbst in Fabelreich scheint das Weihnachtsfieber zu existieren. Eleanor hat in den letzten Wochen das gesamte Kollegium im Alleingang dekoriert. Zwar nur dezent mit Stechpalme, Tannenzweigen und getrockneten Orangenscheiben, aber wenigstens von ihr, der ewigen Zynikerin, hätte ich ein wenig mehr Distanz zum Fest der Liebe erwartet.

Weder sie, noch Mo, Demetra oder die Alumni haben den Vorfall beim Rebellenangriff jemals wieder erwähnt. Möglichst schnell zum Alltag übergehen, scheint das gewöhnliche Vorgehen des Kollegs bei solchen Dingen zu sein. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, aber ich bin wohl noch nicht lange genug dabei, um mir ein Urteil bilden zu können.

Und dann ist da natürlich noch der Ball. Offiziell heißt er zwar Winterball, aber das Datum dürfte wohl kaum zufällig gewählt sein. Die Wächter ganz Fabelreichs werden sich heute Nacht im Kolleg einfinden. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet, aber wenn es auch nur im Entferntesten den Bällen in historischen Liebesschnulzen gleicht, bin ich schneller wieder weg, als Eleanor missbilligend die Brauen verziehen kann.

Irgendwie schaffe ich es, das Essen und zwei Runden Mensch-ärgere-dich-nicht mit meinem Vater und Glasschneidestimme zu überstehen, bevor ich mich ins Bett verabschiede. Der Ball beginnt erst um zehn, aber Mo hat mir eingeschärft, früher da zu sein. Rein gewohnheitsmäßig checke noch schnell Instagram und bei den Bildern meiner besten Freundin, wie sie im neuseeländischen Sommer, laut Bildüberschrift an einem Ort namens Bay of Islands, am Strand rumliegt, spüre ich wieder den alt bekannten Stich im Magen. Mo hat mir zwar nicht gesagt, wie viel früher ich da sein soll, aber plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis sofort zu verschwinden. Sicherheitshalber schließe ich noch die Tür ab, bevor ich mich mit meinem Buch nach Fabelreich teleportiere.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt