Geschwisterliebe (1)

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Ich wache auf, weil etwas an der Tür scharrt.

Obwohl meine Augen noch geschlossen sind, weiß ich sofort wieder wo ich bin.

Stille. Keine Schreie mehr. Nur Meeresrauschen das ferne Kreischen einer Möwe. Mein Kopf mahnt zur Wachsamkeit, will sofort, dass ich aufstehe, aber mein Körper ist mittlerweile zu erschöpft und gewinnt das Duell.

Im Laufe der Nacht habe ich mich bin zum Kinn in der Decke vergraben. Darunter ist es warm, oder, naja, zumindest ist es nicht kalt. Das leichte Ziehen an meinen Haaren, wenn ich den Kopf bewege, sagt mir, dass Eleanor noch immer dicht neben mir liegt. Ich bin froh, dass sie da ist, ein zuverlässiges Gewicht an meiner Seite (und eine lebendige Heizdecke, aber das klingt schrecklich pragmatisch).

Ich wünschte, Mo wäre hier. Sein Fehlen ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen, ich sollte froh darüber sein, aber es will mir nicht richtig gelingen. In den letzten Tagen habe ich mich so an ihn gewöhnt, dass seine Abwesenheit ein Loch in meinem Magen ist. Wie er wohl die Nacht zugebracht hat? Allein, versteckt in einem dunklen Winkel der Festung? Hat er das Labyrinth der Gänge durchstreift, auf der Suche nach einem Ausweg? Wachsam, die Gefahr immer im Nacken? Vielleicht hat er es bis zum Boot geschafft und ist mittlerweile wieder sicher im Kolleg. Vielleicht sitzt er aber auch in einer der Zellen neben uns.

Wieder ein Scharren an der Tür. Es klingt wie Nägel.

…oder Krallen.

Mit einem Ruck reiße ich die Augen auf. Durch das schmale Fenster dringt schmutziges Tageslicht herein. Ich drehe mich zu Eleanor. Auch im Schlaf hat sie noch einen Arm um mich gelegt, als wollte sie mich vor der Welt da draußen abschirmen. Sie sieht friedlich aus, wenn sie schläft, und mir wird bewusst, dass ich sie zum ersten Mal ohne Falten auf der Stirn oder zusammengezogene Augenbrauen sehe. Es tut mir fast leid, sie zu wecken. „Eleanor.“ Ich zupfe an ihrem Ärmel. „Da ist jemand.“

Sie ist sofort wach. Es dauert nur Sekunden bis sich ihr Blick schärft. Ob sie schon immer einen leichten Schlaf hatte, oder erst seit sie hier ist?

Von der Tür kommt ein Klappern, wie wenn jemand einen Schlüsselbund hervorzieht.

Auf Eleanors Stirn entsteht eine Falte. „Bleib liegen.“ Sie wirft die Decke zurück und ich fröstle, als ein Schwall kalter Luft über meine Arme streicht.

Im gleichen Moment, in dem Eleanor auf die Füße kommt, wird die Tür aufgeworfen.

Alekto steht auf der Schwelle, in alter, schlangengekrönter Frische. „Morgen, ihr Hübschen!“ Als sie mich sieht, bleckt die Zähne, was wahrscheinlich ein Lachen darstellen soll. Die Furie macht einen weiteren Schritt auf das Bett zu, aber Eleanor stellt sich ihr fauchend in den Weg:  „Fass sie an und kratze dir deine hässlichen Augen aus!“

„Ruhig, Frau. Ich will nichts von deiner Brut. Das Frühstück ist für euch.“ Sie deutet eine spöttische Verbeugung an. Dann knallt sie zwei Schüsseln mit einer undefinierten Pampe auf den Boden. Mein Verstand sagt Haferschleim, mein Magen frisch angerührte Pappmaschee.

„Ist das alles? Mehr bin ich deinem Herrn nicht wert?“, fragt Eleanor und ihre Stimme driftet wieder gefährlich ins Ironische ab. Ein bisschen zu sehr, für meinen Geschmack. Haben Furien Humor? Alekto sagt nichts, dreht sich wortlos um und schlurft zur Tür. Vielleicht ist sie Eleanors Spitzen schon gewohnt. Sie will gerade die Tür hinter sich zu werfen, als Eleanor noch einen  draufsetzt. „Sag Damon, er hat die Rosen vergessen!“

Ein Knacken, ein Schnalzen. Ich sehe noch, wie Alektos ausholt, bevor ihre Peitsche auf mit Eleanors Wange klatscht. Die Wucht schleudert sie gegen die Wand.

„Vorsicht, Frau“, flüstert Alekto, während sie beobachtet, wie sich Eleanor stöhnend an das eiserne Bettgestell klammert. „Beim nächsten Mal hole ich mir deine Zunge.“

„Als ob Damon das erlauben würde.“ Eleanors Stimme klingt dumpf. „Meine Zunge ist das Beste an mir. Gleich nach meinem Hirn.“

„Wenn du dir da so sicher bist.“ Alekto bleckt wieder die Zähne. „Esst rasch. Der Herr erwartet euch.“ Dann knallt sie dir Tür hinter sich zu.

„Alles okay?“ Hastig helfe ich Eleanor auf das Bett. Bis auf einen roten Striemen am Hals wirkt sie unverletzt.

Eleanor wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und schnaubt, als sie Blut auf ihren Fingern sieht. Zum dritten Mal ist ihre Lippe aufgeplatzt. „Naja. Das war es wert. Hier“, sie reicht mir eine der Schüsseln. „Schmeckt nicht so, ist aber genießbar. Inklusive Milkweed, versteht sich.“

Missmutig stochere ich in der grauen Pampe und nehme ein paar Löffel. Es schmeckt wirklich nach Pappmaschee, aber ich habe solchen Hunger, dass ich nicht besonders wählerisch bin. Eleanor rührt ihre eigene Schüssel nicht an. Stattdessen beginnt sie, ihre Haare mit den Fingern zu kämmen und zu einem Zopf zu flechten.

Ich stutze. „Was machst du da?“

Eleanor schaut mich nicht an. „Wenn ich vor Damon knien muss, dann wenigstens mit einem letzten Rest Stil.“

Auf einmal ist mein Hunger wie weggeblasen. „Warum solltest du vor ihm knien?“

„Er wird eine Gegenleistung wollen, wenn er dich gehen lässt.“

„Und die Gegenleistung bist du?“

Als sie meinen Gesichtsausdruck sieht, setzt sich Eleanor wieder neben mich aufs Bett. Hast du dich nie gefragt, wie unser Kollegium zu einem neuen Motto gekommen ist? Hell or high water.“

„Ich dachte immer, es heißt, dass man zusammenhalten soll“, murmele ich kleinlaut.

„Es heißt, dass man das Richtige tun muss. Auch wenn es einen etwas kostet. Ich habe es nach Damons Rebellion über unsere Tür geschrieben. Es war nie nur ein daher gesagter Spruch“

Ich schlucke. „Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich stark genug bin.“

„Stark ist man nicht. Man wird es und zwar immer dann, wenn man es muss.“ Sie hebt ihren Zeigefinger und tippt mir unter das Kinn, damit ich sie anschaue. „Versprich mir etwas. Egal, was dort unten passiert, du wirst mir nicht helfen. Rauskommen, dich selbst retten, das hat höchste Priorität. Verstanden?“

„Okay“, sage ich auch wenn ich es nicht so meine.

„Dann komm.“ Eleanor steht auf und klopft an die Tür. Es dauert nicht lange, bis Alekto öffnet. Ich ziehe mir meine Jacke an. Dann trete ich neben Eleanor vor die Dunkelheit des Gangs. In meinem Hals steckt ein schwerer Klos.

Auch Eleanor zittert plötzlich.

„Alles okay?“, frage ich.

Sie schluckt. „Du weißt nicht, wie oft ich diesen Albtraum hatte. Ich alleine vor Damon. Genau wie damals nur schlimmer. Jetzt ist er wahr geworden.“

„Nein. Nicht ganz.“ Ich schaue ihr in die Augen. „Du bist nicht allein.“

Als Eleanor meinen Blick erwidert, liegt eine Dankbarkeit darin, die ich noch nie bei ihr gesehen habe. Ich weiß, dass ein Teil von ihr sich schämt vor mir, der jüngeren, Schwäche zu zeigen, wo sie doch eigentlich stark sein sollte.

Trotzdem halte ich Eleanor meine Hand entgegen und ihre kalte Finger schließen sich um meine. „Vergiss es nie“, flüstere ich, „Wir sind das Kollegium der Schatten. Wir, nicht Damon.Wir nennen die Dunkelheit unseren Freund. Und einen Freund fürchtet man nicht.“

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt