Das Mädchen mit dem grauen Haar (2)

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Menschen strömen vom Kapitelsaal aus in die Gänge und die Treppe hinunter zu mir. Noch einmal rufe ich mir in Erinnerung, dass mich niemand hier kennt, aber sicherheitshalber ducke ich mich trotzdem in den Schatten eines großen Vorhangs. Auch um unangenehme Gespräche zu vermeiden. In der Menge sehe ich einen deutlich jüngeren Eric und-

Ich schlucke. Constanze. Sie hat sich nicht besonders verändert, ist vielleicht ein wenig grauer geworden. Wen ich jetzt zu ihr gehen würde...ich könnte es wie einen Unfall aussehen lassen. Vielleicht müsste ich sie auch gar nicht arg verletzen. Nur so viel, das Blut fließt. Blut, das sechzehn Jahre später Demetras Leben retten könnte.

Du kannst nichts mitnehmen. Asterias Worte. Fluchend balle ich die Hand zur Faust.

Auf der Galerie scheint es ein kleineres Gedränge zu geben. Ich hebe den Blick und sehe wie eine Gruppe bewaffneter Wächter die Treppe zur Halle runter kommt, in ihrer Mitte ein schwarz gekleideter Mann.

Damon. Er ist nicht gerade das, was man einen kooperativen Gefangenen nennt. Immer wieder stemmt er sich gegen seine Bewacher, trotz der gezischten Beleidigungen um ihn herum liegt immer noch ein halbes, arrogantes Lächeln auf seinen Lippen. Am Treppenabsatz angekommen, dreht er den Kopf und sieht über seine Bewacher hinweg zurück nach oben. „Genieße deinen Triumph, meine Liebe!", ruft er jemandem dort oben zu, den ich erst nicht ausmachen kann. Dann sehe ich sie. Sie stehen oben auf der Galerie, nebeneinander und sehen gemeinsam auf Damon herab. Eleanor und Demetra.

Bei ihrem Anblick zurrt sich in meiner Brust ein neuer schmerzhafter Knoten. Demetra trägt schon den silbernen Umhang, aber ihr Haar hat noch die Farbe von dunklem Waldhonig und es sind weniger Falten in ihrem Gesicht. Eleanor ist...nun ja. Immer noch Eleanor. Nur jünger. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber die Linien um ihren Mund sind noch nicht so starr wie heute, wo es immer aussieht, als würde sie sich ständig beherrschen müssen, um keinen Wutanfall zu haben. Ausnahmsweise sind ihre Augenbrauen mal nicht zusammengezogen und als ihr Blick Damons begegnet, sehe ich deutlich die Unsicherheit darin.

„Schau einer an", zischt eine Frau in meiner Nähe ihrer Nachbarin zu, „Damons kleines Flittchen. Traut sich also wieder in die Öffentlichkeit. Jede Wette, dass kein Jahr vergeht, bis sie ihm ins Gefängnis folgt. Verstehe nicht, wieso sie die nicht gleich mit eingesperrt haben. Widerlich ist das, diese ganze dunkle Brut."

Ich drehe mich zu den beiden um: „Nicht so widerlich, wie die Erwachsenen, die weggesehen und einfach zugelassen haben, dass ein skrupelloser Narzisst unter ihrem Dach Minderjährige manipuliert und verführt!"

Die beiden schauen mich an, als hätte ich ihnen eine geknallt. Gut so, sie hätten es sowas von verdient. In meinen Ohren pocht noch immer das Blut. Vielleicht hat Eleanor schon auf mich abgefärbt, aber ich habe diese Heuchelei so satt. Die Falschheit dieser Leute, die das Elend anderer ausnutzen, um sich in ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit zu baden. Man kann Eleanor ja viel vorwerfen, aber im Vergleich zu denen war sie immer schonungslos ehrlich, was ihre Schwächen angeht. Sie hat nie behauptet, mehr oder besser zu sein, als sie wirklich war. Im Gegenteil.

„Wir werden uns wieder sehen, Eleanor." Damon spricht ihren Namen genauso besitzergreifend aus wie in der Festung. Bei seinen Worten ist es ganz still in der Halle geworden. Selbst die Lästermäuler schweigen. „Und dann ist dir der Lohn für deinen Verrat sicher. Du weißt ja: In der Hölle gibt es einen speziellen Platz für Verräter."

Eleanors Miene bliebt reglos. Schon damals hat sie das Pokerface offensichtlich beherrscht. Demetra fasst sie an der Schulter, dreht sie von Damon weg und flüstert ihr etwas ins Ohr. Da erst fällt es mir auf, das Buch in Eleanors Hand. Hekates Tagebuch. Mein Portalbuch. Und Damons Portalbuch, bevor es ihm im Prozess abgenommen wurde.

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