Schauer und Sterne (3)

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Als der Abend voranschreitet, verläuft sich die Menge ein wenig. Die Türen zur Terrasse werden geöffnet und trotz der Kälte tummeln sich viele inzwischen draußen an der frischen Luft, wo Fackeln zur Beleuchtung aufgestellt sind. Auch Eleanor ist verschwunden, ich sehe sie jedenfalls weder auf der Tanzfläche, noch bei den schattigen Umrissen vor den Fensterscheiben.

Mo und ich haben uns auf zwei Chesterfield-Sofas vor dem Kamin niedergelassen, zwischen uns eine Schale mit Plätzchen.

„Schau mal!" Mo hält ein braunes Gebäckstück mit Schokoglasur hoch. „Nürnberger Lebkuchen. Die hat die Küche sicher wegen dir gemacht. Weil du aus Deutschland kommst."

Er fackelt nicht lange und schiebt sich den Lebkuchen in den Mund. „Mhm. Die Dinger sind wirklich das einzig Gute an Weihnachten. Und Eleanors Zimtschnecken."

„Warum hasst du Weihnachten eigentlich?", frage ich.

„Es ist nicht so, dass ich es wirklich hasse." Mo würgt seinen Lebkuchen runter und presst den Kiefer zusammen. „Ich würde nur auch gern mal mit meiner Familie feiern, so wie alle anderen. Meiner richtigen Familie."

„Sind-" Es ist eigentlich überhaupt nicht meine Art, solche persönlichen Fragen zu stellen. Aber dieses eine Mal siegt bei mir wirklich die Neugier. „-sind deine Eltern tot?"

Mo zuckt mit den Schultern und schaut dabei ins Feuer. „Ich hab keine Ahnung. Jemand hat mich vor der Tür des Kollegs abgelegt, da war ich noch ein Baby. Ich weiß nicht, wer sie sind. Demetra hat versucht, es herauszufinden, aber kein Wächter wusste irgendwas. Früher kam es öfter vor, dass Wächter ihre Babys dem Kolleg zur Erziehung überließen. Aber in der heutigen Zeit ist es selten geworden. Ich bin der einzige seit vielen Jahrzehnten."

„Das tut mir leid", sage ich. Es ist eine dumme und ziemlich schwache Antwort, aber ich weiß nicht, wie ich sonst reagieren soll.

„Muss es nicht. Die meiste Zeit bin ich echt zufrieden, so wie es ist. Ich hatte eine tolle Kindheit. Wer kann schon sagen, dass er von Sirenen das Schwimmen gelernt hat oder statt Ponys auf Greifen reiten durfte?" Er grinst. „Demetra ist die beste Granny, die man sich vorstellen kann. Mir tut jeder Leid, der sie nur als Priorin kennt. Und Eleanor, natürlich. Ich weiß, wie sie andere manchmal behandelt. Auch dich. Aber zu mir war sie nie so. Wenn ich an Mutter denke, dann sehe ich sie und Demetra. Ich vermisse meine Eltern nicht, kann ich ja auch schlecht, wenn ich sie nie gekannt hab. Aber ich vermisse das Konzept von Eltern, weißt du? Manchmal frage ich mich, ob sie noch leben. Wie sehen sie heute aus? Rennen irgendwo Geschwister rum, von denen ich nichts weiß? Werde ich eines Tages durch die Siedlung laufen und mein eigenes Gesicht in jemandem erkennen?" Mo schluckt. „Und hin und wieder kommen auch die richtig fiesen Gedanken. Warum haben sie mich zurückgelassen? Lag es an mir? Weiß nicht. An Tagen wie heute, da wird mir mit nem Neon-Schild gezeigt, dass bei mir alles anderes ist, als bei anderen."

„Ja", flüstere ich, mehr zu mir selbst, „Das kenne ich." Die Worte sind raus, ehe ich richtig darüber nachgedacht habe. Ich sehe an Mos Gesicht, dass er irritiert ist und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. „Es ist nur...", druckse ich herum, „Ich..."

Aber Mo ist nicht blöd. Er und sein Rasiermesser-Verstand erkennen sofort, wenn man sie verarschen will. „Was ist los, Lina?"

„Nichts." Meine Kehle wird schon wieder eng. Hitze steigt von meinem Nacken auf, über meine Wangen und bis in die Augen. Ich will jetzt nicht weinen. Nicht hier, nicht vor ihm.

Nein. Nein, eigentlich ist es genau das, was ich will.

„Kennst du das", frage ich und nur am Rande nehme ich wahr, wie dünn meine Stimme klingt. „Das Gefühl, dass alles um dich herum in Bewegung ist, nur du nicht? Gerade war die Welt noch normal. Dann blinzelst du und jeder hat sich verändert. Wie eine Leiter und plötzlich sind alle über dir. Nur du trittst auf der Stelle." Ich schlucke, aber der Klos im Hals steckt fest. „So fühle ich mich gerade."

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