Nänie für den Frühling (1)

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Diesmal wache ich nicht auf dem Fußboden einer römischen Villa auf. Oder in einer Gefängniszelle mitten im Meer.

Ich liege im Erste-Hilfe Zimmer von Stormglen Manor. Als ich die Augen aufschlage und das herrschaftliche Fenster neben mir sehe, davor die graue Steinfassade mit den verholzten Überresten wilden Weins, durchflutetet mich Erleichterung wie ein warmer Schauer.

Für ein paar Sekunden kann ich nur daliegend und an die Decke starren. Atmen, ein und aus.

Vorbei. In Sicherheit. Zuhause.

Vorbei.

Noch immer benommen drehe ich den Kopf und entdecke Eleanor im Bett am anderen Ende des Raumes. Sie hat die Augen geschlossen, ist bewusstlos oder schläft. In ihrem Handrücken steckt eine Infusionsnadel, die Flüssigkeit im Plastikröhrchen sieht verdächtig nach Milkweed aus. Nicolas sitzt auf einem Stuhl an ihrer Seite. Er hat den Blick niedergeschlagen, immer wieder fallen ihm die Augen zu, er kämpft gegen die Müdigkeit. Trotzdem ist er so auf Eleanor konzentriert, dass ich mich räuspern muss, bis er mich bemerkt. „Lina!" Erst als er mich direkt ansieht, sehe ich die dunklen Schatten unter seinen Augen. „Na, endlich. Soll ich Flavius holen"

Ich schüttle den Kopf und setze mich gerade ins Bett. Draußen ist es noch hell. Die blassen Strahlen der Wintersonne dringen fast ungehindert durch die kahlen Weinranken und tauchen den Raum in kalkweißes Licht. „Was ist passiert?"

„Du warst bewusstlos, als Eric dich durch das Portal gezerrt hat. Wahrscheinlich der Schock, meint Flavius. Wir sind jetzt seit vier Stunden hier."

„Eleanor-?"

„Hat Glück gehabt. Eine Rippe ist gebrochen und die Magie hat sie ausgebrannt. Aber sie wird es überleben. Kann allerdings dauern, bis sie wieder ansprechbar ist."

„Das war kein Glück." Erinnerungen stürzen auf mich ein, eine Flut aus dunklen Bildern und halb zerrissenen Schreien. „Das warst du. Du hast sie gerettet."

„Ich habe nur dafür gesorgt, dass sie sich erinnert. Wer sie wirklich ist."

Und wer bist du wirklich? Die Frage geistert durch meinen Kopf, während ich ihn anschaue und versuche, mein lahmes Hirn zum Laufen zu bringen. Ich spreche sie nicht aus. Auch wenn mir die Motive dieses Manns immer noch ein halbes Rätsel sind, es gibt brennendere Angelegenheiten. „Du bist zu den Wächtern gegangen."

Nicolas nickt. „War ein ziemlicher Schock für sie, kannst du dir ja denken. Sie haben mir nicht geglaubt, bis dein Hilferuf kam. Danach sind wir sofort los."

Bis dein Hilferuf kam.

Ich erlaube mir nicht, darüber nachzudenken, was das heißt, schiebe die aufbrodelnden Schuldgefühle weg, bis ganz nach unten. Nicht jetzt.

„Dann lassen die Alumni dich wieder im Kolleg sein? Obwohl du mit den Rebellen zusammenarbeitest?"

Er neigt den Kopf zur Seite, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Stirnrunzeln und schiefem Grinsen. „Sagen wir, sie dulden es, solange ich mich nur um Eleanor kümmere. Sind wahrscheinlich froh, dass sie es nicht selbst tun müssen. Im Moment haben sie genug andere Probleme." Nicolas räuspert sich. „Du solltest was essen. Die Alumni treffen sich in zwei Stunden zur Krisensitzung im grünen Kollegium. Ich habe dir Eleanors Umhang über den Stuhl da gehängt."

„Eleanors - ähm was?" Langsam dämmert mir, was er damit sagen will. „Oh, nein. Nein, nein, nein."

„Deine Alumna ist verletzt", beharrt er „sie braucht eine Vertretung. Schau mich nicht so an! Ich bin ein Geächteter."

„Aber Mo ist schon viel länger hier. Er-"

„Mortimer ist verschwunden."

Ich stocke, mitten in meinem Gedankenfluss. „Was?"

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