Auge um Auge

376 53 1
                                    

„Wo ist das Buch?"

Ich drehe meinen Kopf, gerade so weit, wie es die schraubstockartige Umklammerung der Hand, oder vielmehr ihre Besitzerin, zulässt.

Natürlich. Hätte ich mir denken können. Diese Stimme kann nur einer gehören.

„Verdammt, hast du mich erschreckt!" Ich reiße mich los und mache einen Schritt zurück. „Wie kommst du hier rein?"

„Durch die Hintertür." Eleanor verschränkt die Arme. „Ich war gerade auf dem Weg in den zweiten Stock. Da hab ich dich reingehen sehen. Oder eher flüchten. Was ist los?"

„Frag dich lieber wer los ist!"

Eleanor hört mir zu, mit zusammengezogenen Augenbrauen, während ich in hastigen Worten eine Zusammenfassung der letzten Stunde gebe. Zunächst ist ihr Blick genauso geschockt wie meiner, aber sie fängt sich schneller.

„Constanze!", sagt sie und schnaubt. „Hätte mich auch ein wenig enttäuscht, wenn sie tatsächlich so langweilig gewesen wäre, wie sie die ganzen Jahre über schien."

„Kannst du nicht einmal ernst bleiben? Sie hat versucht Demetra zu töten!"

„Ich weiß." Eleanor Blick wird düster. „Alles zu seiner Zeit. Zuerst muss das Buch ins Kolleg. In Sicherheit."

Mein Blick wandert zu Hecates Tagebuch, noch immer in meiner Hand. „Kannst du es nicht gleich hier zerstören?"

„Nein. Sicher haben Myrtha oder Hecate Schutzmaßnahmen ergriffen. Ich brauche Zeit und Ruhe, dann komme ich vielleicht auf eine Idee. Wo ist Mo?"

„Weg."

„Weg?"

„Ich weiß es nicht! Er wollte Constanze ablenken, ich glaube sie haben gekämpft, aber-"

„Überlass das mir", schneidet mir Eleanor das Wort ab, „Nimm du das Portalbuch und bringe es ins Kolleg. Ich kümmere mich um-"

In diesem Moment werden ihre Worte von einem tiefen Gong unterbrochen. Zuerst denke ich, es läutet zur Pause, dann aber höre ich den Unterschied in der Tonfolge. Eine Durchsage.

Als ich erkenne, wer spricht, rauscht ein eiskalter Schauer meinen Rücken herab.

„Hallo, Lina, sagt Damon Blackwells Stimme. Eleanor zuckt zusammen. Zwar ist seine Stimme durch die technische Verstärkung ein wenig verzerrt, doch es besteht kein Zweifel. Du und mein Sohn, ihr habt euer kleines Versteckspiel gut gespielt. Respekt. Eines Tages werdet ihr wertvolle Soldaten an meiner Seite sein. Aber jetzt ist es genug. Du hast mein Buch, ich habe deine Klasse. Lass uns doch tauschen. Ich erwarte dich in zehn Minuten in der Turnhalle. Wenn du mit dem Buch fliehst oder es versteckst, werden deine Mitschüler sterben. Versuche mich zu betrügen, sie sterben. Komme zu spät, sie sterben. Die Wahl liegt bei dir. Bis du kommst wird mir Mo Gesellschaft leisten."

Das Mikrofon knackt. Dann ist es still.

Eleanor sinkt auf eine Kiste mir gegenüber. Sie ist bleich geworden. „Er hat Mo."

„Das...", stammle ich, „Das ist fake! Eine Durchsage kann nur von Lehrerzimmer als gemacht werden. Die hätten Damon gesehen, ihn unterbrochen, die Polizei gerufen-"

„Er hat eine Zeitglocke über deine Schule gelegt", sagt Eleanor und ihre Stimme ist absolut ausdruckslos. „Die Zeit angehalten, auf einen bestimmten Raum beschränkt. Alles nicht-magische Leben ist eingefroren. Ich habe es schon bemerkt, als ich gekommen bin. Er muss Elfen auf seiner Seite haben, wenn ihm sowas gelingt."

Ich starre sie an, ziemlich sicher mit weit aufgerissenem Mund. Nun, das würde zumindest erklären, warum unseren Kampf niemand mitbekommen hat. Und warum der gesamte Schulhof nicht schon längst voller blinkender Polizeiautos steht. „Was sollen wir jetzt machen?"

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt