Dunkle Tunnel (3)

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Zuerst checke ich es gar nicht. Inmitten der Werbetafeln und blinkenden Großstadtlichter ist dieser Anblick einfach zu surreal. Der Zusammenprall von zwei Welten, die nicht zusammengehören.

Ein Schattenwächter. Ein Schattenwächter in London.

Mo schiebt mich hinter sich. „Wer sind Sie?" Seine Stimme zittert kaum merklich.

Der fremde Wächter sagt nichts. Stattdessen dreht er sein Handgelenk, rasch und in einem ungesund aussehenden Winkel. Zwei Schatten schnellen an uns vorbei in die Stahlkonstruktion über unseren Köpfen.

Ein Knirschen, ein Blitzen.

Dann steigen zwei Rauchfahnen unter der Anzeigetafel für ein-und ausfahrende Züge hervor. Es stinkt nach geschmortem Plastik. Und etwas fällt vor unsere Füße.

Die versengten Reste einer Überwachungskamera.

„Hat Blackwell Sie geschickt?" Diesmal ist die Panik in Mos Stimme deutlich herauszuhören. „Was wollen Sie von uns?"

Nach wie vor schweigt der Wächter. Er macht einen weiteren Schritt auf uns zu. Ich meine ein leises Lachen unter der Kapuze zu hören.

„Lina, lauf!" Mo zieht mich mit, weg in Richtung Treppe. Wir sind erst ein paar Meter gerannt, als etwas nach meinen Beinen greift. Ich reiße den Kopf herum und starre zurück auf meine Füße. Eine schwarze Ranke aus Schatten schlingt sich um meinen Knöchel. Das nächste, was ich fühle, sind Schmerzen am ganzen Körper, als Mo und ich zu Boden gerissen werden. Meine Ellenbogen fangen den Sturz ab. Dabei knallen sie so heftig auf den Beton, dass ich kurz glaube, sie sind gebrochen. Vor meinen Augen tanzen schwarze Punkte wie ein Mückenschwarm.

Mo rollt sich zur Seite, reißt den Arm herum. Ein Schatten schießt daraus auf den Fremden zu. Der wehrt mühelos ab und leitet Mos Schatten in die nächste Werbewand um. Papier-und Holzsplitter regnen auf uns herab, während ich mich mühevoll auf die schmerzenden Arme stemme. Wieder startet Mo einen Angriff und ich nutze die Ablenkung, um hinter die Sitzbank zu robben. Raus aus der Schusslinie.

Kein Zweifel, was dieser Angreifer sucht. Eleanor hat vermutet, dass Blackwell Mo jagen würde. Er will seinen Sohn für sich, an seiner Seite. Koste es, was es wolle. Aber wen hat er da auf uns angesetzt? Der Wächter ist deutlich kleiner als Damon. Und ich glaube nicht, dass Margret ihren Sohn so attackieren würde. Wie viele Schattenwächter rennen da draußen rum, von denen das Kolleg keine Ahnung hat?

„Lina?" Mos Augen sind nach wie vor auf den Fremden fixiert, den ich hinter den Sitzen nicht mehr sehen kann. Um seine Arme schlingen sich Schattenbänder, immer wieder zuckt eines davon vor, als könne es nicht erwarten, loszuschlagen. „Hol dein Portalbuch raus! Bei drei-"

Ein Rumsen hallt durch den Bahnhof, als die Sitzbank vor mir aus ihrer Verankerung gerissen wird. Die Wucht der Explosion schleudert mich in die Luft. Ich schlittere über den Boden, vorbei an Mo, über die dicke weiße Abstandslinie und dann-

Wumm.

Mein Magen macht ein Looping, als ich ins Gleisbett stürze. Über einen Meter befinde ich mich im freien Fall, bis ich auf die Schienen knalle. Metall bohrt sich in meinen Rücken, genau zwischen die Wirbel, und kurz bleibt mir vor Schmerz die Luft weg. Über mir knistert die Luft vor Spannung und Magie, die Neonröhren flackern und herrenlose Schatten jagen die gefliesten Wände entlang wie die Ausgeburten eines Albtraums.

„Lina!" Mit einer fließenden Bewegung schwingt sich Mo über die Kante und landet neben mir. „Bist du verletzt?"

„Passt schon." Ich lasse mir von ihm aufhelfen, bis ich wieder auf wackeligen Beinen stehe. Meiner Wirbelsäule hat der Kontakt mit den Schienen nicht gerade gut getan. „Wo-"

Aber da sehe ich ihn schon. Unser Angreifer ist uns auf die Gleise gefolgt. Reglos steht er ein paar Meter weiter weg vor dem schwarzen U-Bahntunnel, während sich die Schatten hinter ihm auftürmen wie Gewitterwolken.

„Komm!" Mo zieht mich mit sich, in die entgegengesetzte Richtung. Zusammen stolpern, rennen wir über die Schienen, hinein in den schwarzen U-Bahntunnel.

Im Tunnel ist es fast vollkommen dunkel. Stromkabel ziehen sich die Wände entlang wie wulstige Adern, nur in einigen Metern Abstand brennen vergitterte Notlampen.

Ich kann die Schatten unseres Gegners schon an unseren Fersen spüren, während wir durch die Dunkelheit hasten. Fast meine ich, sie schnüffeln zu hören, wie Hunde auf der Jagd. Wer auch immer der Fremde ist, er weiß mit seinem Talent umzugehen. Besser wahrscheinlich als wir.

„Lina, das Buch!" Mos Stimme kommt zwischen keuchendem Luftholen aus der Dunkelheit neben mir. „Schnell!"

Ich greife in meine Tasche, was mitten in der Bewegung nicht gerade einfach ist, weil sie hin und herpendelt und gegen mein Bein schlägt. Endlich bekomme ich die Kante meines Portalbuchs zu fassen.

Mo wird plötzlich langsamer. „Spürst du das auch?"

Ein leichtes Beben geht durch die Schienen unter uns, gefolgt von einem Kreischen wie Metall auf Metall, irgendwo weiter vorn im Tunnel. Ich starre in die Finsternis. Wo ich habe ich das schon mal gehört?

Dann tauchen sie auf. Zwei stecknadelgroße weiße Punkte in der Ferne.

Mal wieder schaltet Mos Hirn schneller als meins. „Zug!"

Mein Herz sackt mir in den Magen.

Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße!

Wir wirbeln herum, rennen wieder in das entgegengesetzte Richtung. Ungefähr fünfzig Meter hinter uns sehe ich den feindlichen Schattenwächter. Er hat jetzt ebenfalls innegehalten, offenbar verwirrt über unseren plötzlichen Sinneswandel, aber mir ist das vollkommen gleich. Wenn ich zwischen einer zweiten Audienz bei Damon-ich-bin-der-König-des-Universums-Blackwell und dem sicheren Tod wählen kann, dann nehme ich doch lieber Blackwell.

Der Wächter vor uns baut sich breitbeinig über den Schienen auf, die ausgestreckten Arme voller Schatten, bereit zum Angriff. Ist der blöd? Offenbar sieht er nicht, was da auf uns zurollt. Wenn die Bahn uns platt macht, dann ihn gleich danach.

Mit einer Hand schlage ich mein Portalbuch auf, mit der anderen greife ich in der Dunkelheit nach Mo. „Halt dich an mir fest!"

Wieder hallt ein mechanisches Kreischen durch den Tunnel. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass der Zug näher gekommen ist.

Viel näher.

Ich bekomme Mos Ärmel zu fassen. Fabelreich, denke ich und versuche bei all der Panik ein klares Bild zu beschwören. Fabelreich, Fabelreich.

Kurz ist die Szene wie eingefroren. In unserem Rücken die Lichter der U-Bahn, groß und rund. Vor uns der Schattenwächter, mit ausgebreiteten Armen.

Dann spüre ich das ersehnte Brausen. Ich kann nicht anders, als vor Erleichtern die Augen schließen, als sich der vertraute Strudel um uns schließt und Mo und mich in die andere Welt zieht. 

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt