In the bleak midwinter (2)

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Wenn man bedenkt, dass ich in der vergangenen Nacht einen Mord erlebt habe, schlafe ich erstaunlich ruhig. Zumindest bis ich kurz vor Morgengrauen von einem Albtraum geweckt werde. Eine ziemlich gestörte Eleanor, die mich mit einem blutigen Messer verfolgt hat, während sie aus Goethes Faust zitierte, hatte darin die Hauptfigur gespielt.

Tja. Wahrscheinlich stecke ich das alles doch nicht ganz so locker weg...

Danach war an Schlaf jedenfalls nicht mehr zu denken. Mit offenen Augen starre ich die Decke an, während mir kalte Schweißtropfen den Nacken runtergelaufen und auf ihrem Weg eine Spur aus Gänsehaut hinterlassen. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich muss aus diesem Zimmer, bevor ich einen klaustrophobischen Anfall krieg.

Mein Vater hat im Wohnzimmer für Mo das Sofa ausgezogen. Er und Mareike haben meine Schluchtz-Story vom englischen Austauschschüler mit Gastfamilienproblemen umstandslos geschluckt. Dabei habe ich echt verdammt dick aufgetragen. Ich bekomme schon fast ein schlechtes Gewissen, wenn ich Mareikes mitleidigen Blick zu Mo sehe. Offiziell hat sein Vater ihm gestern am Telefon verkündet, dass er sich von seiner Mutter scheiden lassen will und die Situation ist eskaliert. Mo hat sich nichts anmerken lassen. Ich schätze mal, seine geprügelter- Hund-Miene, hat erheblich zur Glaubwürdigkeit der Geschichte beigetragen. Wer in Wahrheit dafür verantwortlich ist – eine chronisch mürrische, schattenbeherrschende Frau aus einem magischen Paralleluniversum-, verschweige ich meiner Familie mal lieber.

Ein bisschen graut es mir davor, ihn zu sehen, als ich den schmalen Gang zum Wohnzimmer lang torkele. Morgens bin ich nicht die fitteste, vor allem nicht nach Albträumen und schon gar nicht vor meiner ersten Tasse Kaffee. Das erklärt, warum ich erst nach mehrmaligem Blinzeln merke, dass Mo gar nicht mehr auf dem Sofa liegt.

Ich schiebe die Balkontüre zurück und trete nach draußen ins Tageslicht. Zum Glück habe ich meinen Morgenmantel angezogen. Über Nacht hat es gefroren, Reif bedeckt das Balkongeländer und mein Atem bildet Wolken wir Zigarettenqualm vor meinem Mund. Aber selbst die weihnachtliche Frost-Überzuckerung macht die Hochhäuser um mich herum nicht schöner.

Mo sitzt auf einem Gartenstuhl, versteckt zwischen Stapeln leerer Tontöpfe und halb versunken in seiner riesigen Winterjacke. Auf dem Tisch vor ihm dampft eine Tasse Kaffee –er trinkt ihn wie Eleanor: schwarz, kein Zucker-aber in diesem ist eindeutig Milch.

„Heute mal was anderes?", frage ich statt Guten Morgen mit einem Kopfnicken zur Tasse.

Er zuckt träge mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab einfach ein paar Knöpfe auf eurer Maschine gedrückt." Sein Ton ist deutlich matter als gestern. Keine Spur mehr von Aggressivität.

„Hättest du halt was gesagt."

„Ich wollte niemanden wecken."

„Wie lange bist du denn schon wach?"

„Seit gestern früh um acht?" Beim Anblick meiner verwirrten Miene huscht ihm ein Schatten seines üblichen Lächelns über die Lippen. „Sorry. Euer Sofa ist super, ehrlich. Aber ich konnte einfach nicht schlafen. Keine Minute."

Wahrscheinlich sollte ich jetzt irgendwas Einfühlsames sagen. Aber ich habe so ein Gespür, dass Mo gerade gar keine Lust auf Mitleid hat. Und ich auch nicht.

„Dann brauchst du dringend noch einen zweiten Kaffee. Einen richtigen, diesmal?"

Mo reicht mir seine Tasse. „Danke. Und sorry, wegen gestern. Du hast es nur gut gemeint und ich...Ich war ein Arsch."

„Stimmt. Aber immerhin ein nachvollziehbarer Arsch. Ich hätte mich an deiner Stelle genauso aufgeregt."

Als ich fünf Minuten später zurückkomme, bin ich schon ein wenig fitter. Allein der Geruch von Kaffee weckt meine Lebensgeister. Obwohl drinnen noch keiner auf ist, ziehe ich sicherheitshalber die Balkontüre zu, bevor ich Mo seinen Kaffee rüberschiebe und mich dann meinem zuwende. Meine Morgenrituale sind mir heilig. Schon der erste Schluck fühlt sich an wie ein Anker in die Realität. Wohlig schaudernd schließe ich beide Hände um die Tasse und spüre wie mir die Wärme in die Fingerspitzen steigt. Bei Tageslicht, in der kalten, den Kopf freiblasenden Morgenluft mit Blick auf meine hässliche, vollkommen unmagische Stadt, verliert die letzte Nacht allmählich etwas von ihrem Schrecken.

„Ich kann nicht aufhören, an Reigen zu denken", murmele ich.

„Ich kann nicht aufhören, an Eleanor zu denken." Mo schaut mich nicht an. Sein Gesicht ist der Tasse zugewendet und hinter Kaffeedampf verborgen. „Sie muss sich schrecklich fühlen. Und ich hab sie allein gelassen."

„Als ob das deine Schuld war."

Mo schüttelt den Kopf. „Ich kapiere einfach nicht, wieso Demetra ihr das antut. Wie sie überhaupt daran denken kann!"

Gerne hätte ich ihm zugestimmt, aber etwas hält mich ab. So sehr ich auch glauben möchte, dass Eleanor nichts mit der Sache zu tun hat...die gestrige Nacht hat Zweifel gesät. Vor allem ein Moment, eine kurze, seltsame Begebenheit will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich erwähne sie Mo gegenüber nicht, weil ich ihn weder wütend machen, noch beunruhigen will. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Und ich kann es nicht vergessen.

„Wirst du mitkommen?", fragt Mo unvermittelt.

„Was?" Ich runzele die Stirn: „Demetra hat gesagt, wir sollen nicht vor dem Nachmittag wieder im Kolleg sein."

„Ich meinte, ob du überhaupt mitkommst."

„Natürlich." Langsam dämmert es mir. „Du denkst, es kümmert mich nicht, was mit Eleanor passiert?"

„Naja." Inzwischen hat Mo schon seine zweite Tasse gelehrt und dreht sie in der Hand, als würde er versuchen, die Wahrheit im Kaffeesatz zu lesen. „Du magst sie ja nicht besonders."

„Pass mal auf", sage ich und höre selbst den Ärger aus meiner Stimme heraus. „Keine Ahnung, wann Eleanor und du es endlich kapieren werdet, aber ja: ihr kümmert mich. Unser Kollegium kümmert mich. Und ob du es glaubst oder nicht. Auch ich mache mir Sorgen."

„Schon gut", murmelt Mo. „Tut mir leid. Heute kommt irgendwie nur dummes Zeug aus meinem Mund."

„Ich versuch's ja zu verstehen. Wirklich. Mach's mir halt nicht ganz so schwer. Heute Nachmittag gehen wir gemeinsam ins Kolleg, okay?" Er brummt, was ich mal großzügig als Zustimmung deute. „Gut. Aber vorher müssen wir das Weihnachtsessen mit meinen Eltern überleben."

„Überleben?"

„Jep", sage ich mit einem grimmigen Lächeln, „Wenn du glaubst, Eleanor geht es schlecht, dann warte mal, bis du von meiner Familie ausgequetscht wirst. Ich wette, die Verhöre in Fabelreich sind Wellness dagegen."

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