Der Junge im Baum (1)

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Der Aufzug ist immer noch kaputt.
Natürlich, was sollte ich erwarten? Selbst der Hausmeister kommt nicht öfter als nötig in dieses Schrotthaus. Fluchend hieve ich meinen Koffer auf die erste Treppenstufe. Noch ein Punkt auf der endlosen Liste an Nachteilen, wenn man in einem Hochhaus wohnt. Ich muss in den vierten Stock. Das wird die reinste Tortur.

Schon auf dem Absatz zum Zweiten stehen mir Schweißperlen auf der Stirn. Irgendein Hausbewohner hat passend zu Halloween eine Girlande aus schwarzen Katzen um seine Tür gehängt und, wie könnte es anders sein, sofort bin ich getriggert.

Ich habe weder die Nachtmahrkatze, noch die Begegnung mit den „Magiern" vergessen. Magier in Anführungszeichen, denn hundertprozentig sicher, ob ich das Ganze am Ende nicht doch nur geträumt habe, bin ich mir nicht. Als ich am nächsten Tag in unserer Jugendherberge aufgewacht bin, voller Erde und mit einer schmerzenden Schulter, war ich sogar überzeugt, dass ich nach meinem Sturz fantasiert habe. Bis wir dann später am Nachmittag auf dem Weg zum Holyrood Palace am Prancing Unicorn vorbeigekommen sind. Das Café hat noch genauso ausgesehen wie ich es in Erinnerung hatte, mit einer kleinen Ausnahme: Von Pumpkin Spice stand nichts auf der Karte.

Seitdem bin ich am Zweifeln. Einerseits ist das, was mir da in Edinburgh passiert ist, zwar absurd, für einen Drogenrausch oder eine Verletzung dann aber doch wieder zu logisch. Ich bringe die Bilder einfach nicht mehr aus meinem Kopf, die Stimmen. Eleanor, Demetra... Mal ehrlich, welches Unterbewusstsein denkt sich solche Namen aus? Und lässt die Figuren dann noch mit schottischem Akzent reden? So krass ist nicht mal meine Fantasie drauf.

„Alter, Mädchen!", schreit es von irgendwo unter mir. Wahrscheinlich einer meiner vielen neuen Nachbarn, deren Namen ich mir nie merken kann, weil sie meistens schneller wieder ausgezogen sind, als mein Gehirn schalten kann. „Mach nicht so einen Scheiß Lärm! Ich will pennen, verdammt!"

Ich seufze und wuchte meinen Koffer eine Stufe höher.

Ach ja. Home sweet home. Wann werde ich nochmal achtzehn? Ob die in Edinburgh wohl günstige Studentenwohnheime haben?

Vor unserer Haustüre angekommen, spüre ich meine Arme nicht mehr. Dafür brennen meine Oberschenkel und mein Pullover fühlt sich an, als wäre er an meinem Rücken festgeklebt. Ich bekomme es gerade noch hin, meinen Schlüssel hervorzukramen und die Tür mit dem Koffer voran aufzuschieben. Dann bleibe ich mitten im Rahmen stehen.

Sie sind alle da. Meine Familie, obwohl sich das Wort in meinem Mund falsch anfühlt. Irgendwie verdreht. Zu zweit sitzen sie am Küchentisch, mein Vater und Mareike, von mir auch Glasschneidestimme genannt. Zwischen ihnen steht ein Mensch-ärgere-dich-nicht. Interessant. Mein Vater hasst Brettspiele. Früher musste ich damit immer zu Oma, ihm konnte man nicht mal mit Mühle kommen.

Gerade würfelt Mareike. Dazu sagt sie etwas, mit dieser schrecklich hohen Stimme. Mein Vater lacht und bei dem Geräusch wird mein Brustkorb eng, als würde eine unsichtbare Faust mein Herz würgen. Sie ist schon länger da, die Faust. Ich weiß gar nicht mehr, wann es angefangen hat. Seit es Mareike gibt? Oder erst seit wir alle zusammen hier eingezogen sind?

Es dauert ein bisschen, aber schließlich bemerken sie mich. Mareike lächelt, sie lächelt eigentlich immer, aber mein Vater schaut, als habe er eine Erscheinung. „Lina", sagt er mit überraschtem Unterton, „Ich wusste nicht, dass du heute schon kommst."
Zugegeben, nicht ganz die Begrüßung, die ich erwartet habe.
„Der Rückreisetag steht in dem Elternbrief", sage ich und gebe mir extra Mühe nicht so enttäuscht zu klingen, wie ich bin. „Eigentlich wolltet ihr mich an der Schule abholen."

„Ja, klar, aber ich dachte, das wäre morgen."

„Ne. Aber egal." Ich habe keine Lust mehr auf diese Diskussionen. Es ist nicht das erste Mal und ich weiß schon, wie es weitergehen wird. Noch mehr daher gesagte Entschuldigungen brauche ich nicht. Meine Kehle ist verdächtig eng geworden und so nahe am Wasser gebaut wie ich in letzter Zeit bin...ich will jetzt nicht schon wieder heulen...nicht vor denen. „Nächstes Mal vielleicht weniger denken und mehr lesen", bringe ich noch heraus, bevor ich an meinem Koffer vorbei in mein Zimmer stolpere.

Drinnen werfe ich mich sofort auf mein Bett. Ich finde es nur aus Gewohnheit, meine Sicht ist von unterdrückten Tränen verschwommen. In mir bebt es. Ich habe große Lust, etwas Schweres gegen meinen Schrank zu werfen, bis Holz splittert, vielleicht meine Drachen-Buchstütze aus Bronze. Stattdessen knülle ich nur das Kissen unter meinem Kopf zusammen.

Es hätte nicht wehtuen dürfen. Nicht nach all den Malen zuvor, all den kleinen Enttäuschungen. Aber sie haben es wieder geschafft. Wieder war ich so blöd zu hoffen, dass sich ab jetzt etwas ändert. Dass mein Vater mich nach einer Woche Abwesenheit vielleicht vermissen würde.

Narr. Du bist ein Narr gewesen.

Und das ärgert mich von allem am meisten.

Für dich wird sich nichts ändern, haben mir meine Eltern vor der Scheidung versprochen, Auch wenn wir uns nicht mehr lieben, ändert das nichts an unserer Liebe zu dir.

Schätze, den Spruch haben sie von irgendeiner Internetseite abgekupfert. 100 Wege seinem Kind die Trennung zu erklären, oder so.

Wie oft habe ich mir vorgenommen, nicht mehr zu vertrauen, mich nicht mehr enttäuschen zu lassen? Aber immer wenn ich glaube, jetzt stehe ich über den Dingen, jetzt ist mir alles egal, passiert irgendeine Kleinigkeit und ich gehe hoch wie ein Pulverfass. Als wäre ich immer kurz vorm Siedepunkt und jede zusätzliche Hitze, auch noch so klein, lässt mich überschäumen.

Ich weiß nicht, was aus mir geworden ist. Seit letztem Jahr erkenne ich mich kaum wieder.

Eine Weile bleibe ich zusammengerollt im Bett liegen, immer noch in Schuhen und Jacke. Niemand kommt und klopft. Sie lassen mich in Ruhe. Wahrscheinlich sind sie insgeheim froh, mich nicht sehen zu müssen. Irgendwann stehe ich auf uns gehe ans Fenster. Ich muss dringend die abgestandene Luft rauszulassen. Schon von dem bisschen Heulen fühlt sich mein Hirn verquollener an als meine Augen. Und wenn ich mich in meinem Zimmer so umsehe: wäre sinnvoller gewesen, statt Tränen ein bisschen Wasser zu vergießen. Ein Blick auf meine Monstera zeigt mir, dass mein Vater ihr in der vergangenen Woche nicht die liebevolle Fürsorge geschenkt hat, die sie sonst von mir gewöhnt ist. Den anderen Zimmerpflanzen geht's nicht besser. Auf dem Fensterbrett über der Heizung röstet ein schon ziemlich knuspriger Efeu vor sich hin. Die Erde in den meisten Töpfen ist so staubtrocken, sie wäre selbst Sahara Bewohnern lebensfeindlich vorgekommen.

Auch draußen hat der Regen aufgehört. Eine kalte Welle von Herbstwind schwappt in mein Zimmer, lässt die dürren Efeublätter rascheln wie Papier. An meinen Unterarmen stellen sich die Härchen auf. Ich schaue hinaus in die Nacht, zum Mond hinter den Wolkenfetzen. Erst da bemerke ich ihn.
Zwischen den Ästen hockt ein Schatten. Zu groß für eine Eule oder verirrte Katze. Es ist ein menschenförmiger Schatten. Mit Augen.

Und sie starren mich an.

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