Die Prophetin (1)

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„Ihr Name ist Asteria", sagt Nicolas, während er uns durch die Gassen der Rebellenstadt führt, „Aber eigentlich nennen wir sie nur die Prophetin. Wenn einer weiß, wo Eleanor ist, dann sie."

„Woher? Ich meine-", Mo stockt, um Luft zu holen. Der Abstieg von der Villa über einen schmalen Weg aus Steinstufen und Nicolas's Tempo hat uns beide ganz schön aus der Puste gebracht. Zum Glück ist es dunkel und die Luft zwischen den hohen Steinhäusern schon merklich kühler, sonst wäre mir inzwischen mit Sicherheit der Schweiß runtergelaufen, wie nach dem Cooper-Test. Es ist kaum jemand anderes auf der Straße unterwegs, aber aus vielen Wohnungen quillt Licht durch Schlitze in den Fensterläden. Drinnen huschen Schatten hin und her. Ich weiß, dass uns hunderte verborgene Augen folgen und das Prickeln in meinem Nacken gibt mir Recht.

„-woher sie das weiß?" Bei Mos Anblick kann sich Nicolas das Grinsen nicht verkneifen. Vielleicht amüsiert er sich gerade darüber, dass ihn dieser Junge, für den sogar ein bisschen schnelleres Laufen zu viel ist, vorhin zu einem Duell aufgefordert hat. „Asteria hat die Gabe der Vorsehung. Sie kann in die Zukunft von Menschen blicken. Nicht direkt dieZukunft, es sind immer sehr viele verschiedene Varianten, je nach getroffenen Entscheidungen. Manchmal überblickt sie selbst nicht alle. Sie sieht nur einzelne Fragmente. Aber meistens reichen die für eine Ahnung."

Wir haben die Stadt jetzt hinter uns gelassen. Vor uns erhebt sich die Ruine eines antiken Amphitheaters. Scharf und kalt zeichnet der Mond seine Konturen nach, wie gezackte Überreste einer Eierschale. Zuerst denke ich, das Theater sei eine Art Oval. Erst als Nicolas uns durch einen Torbogen ins Innere führt, merke ich, dass es in Wahrheit einen Halbkreis formt. Die Außenmauern und die Ränge mit den Sitzen der Zuschauer sind fast komplett erhalten, auch wenn der Stein an allen Ecken bröckelt. Den Boden allerdings hat sich die Natur längst zurückgeholt. Gras bedeckt weite Teile und in unregelmäßigen Abständen wachsen sogar Olivenbäume, die Rinde silbrig im Mondlicht. Zur offenen Seite hin geht das Theater in den Wald über, aber davor hebt sich eine leicht erhöhte Plattform vom Boden ab, flach und rechteckig, wie die übergroße Plinthe einer Statue. In alten Zeiten war sie wohl die Bühne, aber heute wird sie zu anderen Zwecken gebraucht. Nicolas steuert direkt darauf zu. Beim Näherkommen sehe ich, warum.

Auf der steinernen Plattform stehen drei Olivenbäume. Sie sind alt, uralt, ihre Stämme so dick, dass nicht einmal Mo, Nicolas und ich zusammen sie umfassen könnten. In der Dunkelheit wirkt ihre Rinde wie massiver Stein, gleichzeitig erzeugt das Mondlicht so scharfe Kontraste, dass ich jede Windung der knorrigen Äste und jede einzelne Wurzel erkennen kann. Im Schatten davor, verborgen unter dem wispernden Baldachin der Blätter, sitzen drei Figuren. Nein, falsch, ich habe nicht genau hingesehen: sie sitzen nicht vor, sondern in den Bäumen. Für jeden von ihnen wurde ein Sitz in den mächtigen Stamm geschlagen, kunstvoll verzieht mit Armlehnen und Schnitzereien über dem Kopfteil.

Drei lebendige Throne.

Merkwürdig. Ich wusste nicht, dass es in Fabelreich Könige gibt. Das Kolleg regelt die Angelegenheiten der Fabelwesen. Wenn sich eine Herrscherin nennen dürfte, dann wäre es wohl am ehesten Demetra.

Wie zur Bestätigung meiner Gedanken hält Nicolas vor der Plattform inne und neigt leicht den Kopf. Eine Geste des Respekts, aber nicht der Unterwerfung. Interessant.

Die Gestalt links außen hebt zur Antwort die Mundwinkel. Es ist ein Mann, mit flammend orangenem Haar und seine Weste ist an den Schultern mit Federn verziert. Ein Phönix wie Reigen.

Der Mann auf der anderen Seite ist nackt. Zumindest auf den ersten Blick. Er verschmilzt förmlich mit dem Baum, so still sitzt er. Kein Windhauch rührt an seinem Haar und Bart. Im Mondlicht wirken seine Muskeln an Armen, Schultern und Brust wie in Fels gemeißelt. Vielleicht brauche ich deshalb so lange, bis es mir auffällt: nur sein Oberkörper ist der eines Mannes, von der Hüfte abwärts geht er in den eines Pferdes über. Halb Mensch, halb Pferd... Schon bevor ich nach Fabelreich gekommen bin, wusste ich, wie man ein solches Wesen nennt: Zentaur.

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