Kapitel 27: Praktische Visionen

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• Vittorius •

Ich habe genau das, was hier gerade passiert, erahnt. Yara benötigt keine tagelangen Einheiten, bis sie ihre Vision erneut aufrufen kann. Nein, sie ist direkt beim ersten Versuch zurück auf den visionären Dächern meiner Stadt. Einerseits finde ich das äußerst beängstigend, andererseits lernt sie so sehr schnell die Kontrolle über die Visionen zu erlangen.

Meister Kaelen wäre fast vom Stuhl gefallen. Er muss sich wahnsinnig zusammenreißen, sich jetzt auf die Anweisungen zu konzentrieren. Belustigt beobachte ich das Spektakel.

Als Kaelen aber „Prinzessin, kommt sofort zurück!", ruft, gehen bei mir direkt sämtliche Alarmglocken an.

Auch ohne Kaelens Bericht weiß ich, dass Aaru in dieser Sekunde erneut Kontakt zu Yara aufgenommen hat. Verdammt sei er!

Da fällt mir die Visionskopplung ein, die wir bei der ersten Vision erlebt haben. Bei Jarons Visionen damals haben wir lange daran gearbeitet, bis ich in seinen Visionen Zutritt erhalten habe. Aber bei Yara ist das anders. Unsere Verbindung zueinander ist anders. Vielleicht schaffe ich die visionäre Verbindung wie beim letzten Mal ganz automatisch?

Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf Yaras Zwischenwelt Ebene.

Keinen Augenblick später habe ich ihren Körper fest an meinen gedrückt. Ich kann mich, als würden Yara und ich das schon Tausende Male so gemacht haben, mit ihrer Vision verbinden und direkt über Yara mit Aaru kommunizieren. Der schockierte Blick von Aaru spricht jedenfalls für sich. Damit hat er nicht gerechnet.

Gerade, als ich ihn zur Rede stellen will, verschwindet er. Zu groß erscheint ihm wohl die Gefahr. Ich bin außer mir vor Wut!

„Ich zeige dir, wie man die Vision wieder verlässt", will ich Yara instruieren, doch jetzt wo sie einen kühleren Kopf hat, hat sie es schon selbst heraus gefunden.

Kluges Kind.

• Yara •

Wie man aus der Vision entkommt, ist eigentlich zu banal. Man kann es beschreiben wie ‚aufwachen' aus einem Traum, wenn man merkt dass man träumt.

Dass mir das noch nicht eher aufgefallen ist ...

Langsam öffne ich die Augen und sehe Kaelen, wie er erschrocken in die Leere blickt. Im nächsten Moment bemerke ich, dass ich nicht mehr alleine in meinem Sessel sitze. Vittorius hat mich zu sich gezogen und umklammert mich krampfhaft. Eindringlich schaut er mir in die Augen.

„Alles in Ordnung?", fragt er mich besorgt.

„Ja", entgegne ich ihm locker. Irgendwie empfand ich die Vision dieses Mal schon gar nicht mehr so Endschlimm. Anscheinend steigert sich seine Sorge dadurch noch mehr.

„Wäre es möglich, alte Situationen aus meiner Vergangenheit nochmal zu erleben? Das wäre vielleicht ungefährlicher", kommt es mir in den Sinn und ich unterbreche die angespannte Stimmung.

„Theoretisch wäre das Unterrichtsstoff für ausgereifte erweiterte Magie, aber bei dem was ich gerade gesehen habe, können wir das versuchen", entgegnet Kaelen gefasst. Ein wenig Unsicherheit entdecke ich dennoch in seinem leeren Blick.

„Zur erweiterten Magie gehört ebenso, einen Dritten an einer Vision teilhaben zu lassen. Damit habt Ihr bereits offensichtlich keine Probleme. Alte Situationen aufrufen ist sehr komplex, könnte euch aber gelingen, Prinzessin", stellt Kaelen fest.

Immer dieses förmliche Gehabe, Meister Kaelen wirkt eher wie ein weiser erhabener Mann, denn ich mit „Ihr" und „euch" ansprechen sollte. Ich werde ihn einfach fragen, ob wir die Förmlichkeit nicht beiseite lassen können, das ist noch sehr irritierend und ich stolpere jedes Mal über so eine Ansprache mir gegenüber.

Vampirkind YaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt