Kapitel 196

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Jetzt stehe ich hier, vor mehreren tausend Menschen, die meinen Song singen. Einen Song, der mir sehr viel bedeutet. Einen Song, den ich für meine Frau und meinen Sohn geschrieben habe. Das hier heute ist das erste Tourabschlusskonzert seit mehreren Jahren. So lange ist es demnach auch her, dass ich eine Tour gespielt habe. Ich hab mich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Anfangs haben Freunde mir Screenshots geschickt von Fotos, die heimlich gemacht wurden. Darauf bin ich zu sehen, wie ich ein einkaufen gehe und wirklich mehr als fertig aussehe. Ich hab mich nie wirklich dazu geäußert, aber auch nie einfach weitergemacht. Es gab nen kurzen Kommentar, dass privat etwas passiert ist und ich Zeit brauchte. Vor etwa drei Jahren war ich dann wieder im Studio, hab wieder Musik produziert und Anfang dieses Jahres ein Album veröffentlicht. Ein Album, in welchem ich die letzten vier Jahre verarbeitet habe. Vier anstrengende Jahre. Das ist auch deutlich rauszuhören. Den Fragen weiche ich so gut es geht aus, das alles ist einfach etwas, was die Öffentlichkeit nichts angeht. Auf der Setlist findet sich kein einziger Song von früher, aber gerade habe ich einfach das Verlangen danach, diesen einen besonderen Song zu spielen. Ich muss ihn einfach spielen. Ich schicke meine Jungs also von der Bühne, schnappe mir meine Akustikgitarre und stelle mich vors Mikro. Ich weiß genau, wie Tom und Friedl, sowie das komplette Management mich gerade etwas hassen, aber ich muss das tun! Sie verfluchen mich gerade alle, aber keiner wird etwas sagen. Tom dimmt das Licht etwas und richtet zwei Scheinwerfer auf mich. Es wird still in der gesamten Halle. Ich schließe meine Augen und beginne dann zu spielen und zu singen. Den Song, den ich für die Frau geschrieben habe, die ich damals nur gedatet habe. Für die Frau, die ich ein Jahr später geheiratet habe. Für die Frau, die....
„Und was die Menschen nicht wissen... Können sie's nicht kapieren... Was hier zwischen uns abgeht... Gehört nur dir und mir..." sind die letzten Zeilen, die ich singe, und dabei öffne ich auch meine Augen.
Vor mir erstreckt sich ein Meer an Lichtern. Das sieht einfach wunderschön aus. Als die letzten Töne verklingen, wird es wieder dunkel. Ich gehe direkt hinter die Bühne, übergebe irgendjemandem einfach schnell meine Gitarre und hocke mich auf den Boden. War das gerade vielleicht doch keine gute Idee? Scheiße, ich hätte das nicht singen sollen.
„Wince? Kannst du noch den letzten Song spielen, oder sollen wir abbrechen?" höre ich Amelie neben mir.
Ich spüre ihre Hand an meinem Rücken und würde genau jetzt am liebsten richtig zusammenbrechen. Aber ich stehe auf, hole ein paar mal tief Luft und setze ein Lächeln auf. Ich nicke meinen Jungs zu, die dann wieder auf die Bühne gehen. Amelie sucht noch nach meinem Blick, aber das schaffe ich jetzt nicht. Ich gehe zurück auf die Bühne und spiele den letzten Song. Meine Fans rufen nach einer Zugabe, aber das machen wir heute nicht. Ich bin komplett ausgelaugt und will einfach nur in mein Bett. Also fällt die Verabschiedung auf der Bühne ebenfalls im Vergleich zu damals wieder echt knapp aus. Mit den anderen zusammen verlasse ich die Bühne, gehe dann aber alleine weiter direkt in meine Garderobe. Unter der Dusche lasse ich die letzten anderthalb Stunden nochmal Revue passieren. Ja, diese Konzerte jetzt taten mir gut. Auf der Bühne konnte ich tatsächlich mal wieder der alte Wincent sein, oder zumindest das, was dem am nächsten kommt. Wirklich der Alte, werde ich nie wieder sein. Während das Wasser auf mich herab gießt, lasse ich auch ein paar Tränen zu, aber sobald ich fertig bin, war's das wieder. Ich ziehe mich an und packe dann grade meine Sachen zusammen, als Amelie reinkommt.
„Wincent, ich mache mir Sorgen um dich" beginnt sie direkt.
„Mir geht's gut" murmle ich, obwohl es nun echt offensichtlich ist, dass es mir nicht gut geht.
Jetzt nach dem Konzert fühle ich mich wieder so leer. Vor fast exakt vier Jahren habe ich mir genau vorgestellt, wie es jetzt nach einem Konzert laufen sollte. Ich komme von der Bühne und falle sofort in die Arme meiner Frau, küsse sie intensiv. Unser Sohn ist davon total angewidert, was mich zum lachen bringt. Nach einer kurzen Dusche spiele ich dann noch mit ihm im Backstage, jage ihn durch die Gänge, sehe mit ihm beim Abbau zu oder liege einfach mit ihm und seiner Mutter auf irgendeinem Sofa oder so. Dabei schläft er auf meiner Brust, ich lasse mir von meiner Frau durch die Haare streichen und schlafe auch beinahe ein. Das war mein Traum. Bei dieser Vorstellung habe ich vor vier Jahren Tränen in den Augen gehabt, weil ich mich gefreut habe. Jetzt habe ich Tränen in den Augen, weil es nie genau so sein wird.
„Dir geht es gar nicht gut. Es war zu früh, du bist noch nicht soweit, wieder auf der Bühne zu stehen. Ich hätte es schon viel früher checken sollen, vielleicht wollte ich es auch einfach nicht wahrhaben. Du brauchst noch Zeit."
„Amelie, ich weiß selber, wie viel ich schaffe! Ich bin erwachsen!" motze ich sie an und bereue meinen Ton schon im nächsten Augenblick wieder.
„Lass doch bitte zu, dass man sich um dich sorgt, du bist eben fast zusammengebrochen. Ich wollte dich nicht zurück auf die Bühne lassen und wahrscheinlich hätte ich es auch nicht tun sollen. Ich hätte dich davon abhalten sollen..."
„Gib dir keine Schuld, ich hab selber entschieden. Ich hab entschieden, dieses Album zu veröffentlichen. Ich hab entschieden, auf Tour zu gehen. Ich hab das alles entschieden und ich hab es durchgezogen. Jetzt will ich ins Hotel."
Mit meinen Sachen verlasse ich, nachdem ich Amelie einen Kuss auf die Wange gedrückt habe, meine Garderobe und fahre dann zum Hotel.

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