Kapitel 197

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Schweißgebadet wache ich in meinem Hotelbett auf.
„Scheiße!" fluche ich laut.
Wer auch immer in den umliegenden Zimmern ist, es tut mir leid für die Störung mitten in der Nacht. Etwas voreilig werfe ich alles, was mir gehört, in meine Tasche und gebe unten an der Rezeption meine Schlüsselkarte ab. Ich setze mich in mein Auto und stelle das Navi ein. Es ist stockfinster, die Sonne wird wohl erst in zwei, drei Stunden aufgehen. Auf den Straßen bin ich teilweise wirklich alleine. Ich brülle zur Musik mit, lasse einfach alles raus. Irgendwann parke ich auf dem fast leeren Parkplatz und starre eine Weile das große Schild vor mir an. Langsam geht auch die Sonne auf. Es ist eigentlich noch lange keine Besuchszeit, aber ich komme meistens außerhalb dieser Zeiten. Gott sei Dank sind die hier alle recht locker. Ich steige aus und gehe rein. So gut wie jeder kennt mich, also werde ich von den halb schlafenden Pflegern und Ärzten nur kurz angelächelt. Mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, den Flur nach ganz hinten durch -dieser Vorgang läuft schon fast automatisch ab- und dann stehe ich schon vor der Tür. Immer wieder zittern meine Hände, während ich die Türklinke nach unten drücke und das Zimmer betrete. Da liegt meine Frau im Bett. Irgendwie ist sie es, irgendwie ist sie es aber auch nicht. Anders als die Leo, in die ich mich vor über fünf Jahren verliebt habe, ist diese Frau blass, ihre Haare glänzen nicht. Seufzend setze ich mich neben ihr Bett und greife nach ihrer Hand.
„Hey" hauche ich und drücke ihren Handrücken gegen meine Lippen „Ich weiß nicht, ob ich langsam an den Punkt kommen sollte, an dem ich dich gehen lasse... Aber ich will das nicht tun. Ich will dich nicht aufgeben. Ich hab immer noch die Hoffnung, dass du zu mir... zu uns... zurückkommst... Ich bin grade von der Tour zurückgekommen... Eigentlich sollte ich erst in ein paar Stunden losfahren, aber ich hatte einfach so ein Bauchgefühl, dass ich hier her muss. Auch wenn ich die Tour toll fand und ich mich auf der Bühne echt gut gefühlt habe... ich konnte sie nicht voll und ganz genießen. Ich hab mir so sehr gewünscht, dir nach der Show in die Arme fallen zu können. Kilian war erst bei meiner Mum und dann bei deinen Eltern, ich hole ihn nachher ab."

Ich rede eine ganze Weile, lege dann meinen Kopf auf ihrer Brust ab, um einfach zu schweigen und durch das Fenster nach draußen in den Garten zu schauen. Am Anfang hab ich mir vorgestellt, wie ich mit ihr und Kilian durch diesen spaziere, wenn sie aufwacht und wieder fit genug ist. Dann war ein Jahr um... dann noch ein zweites... dann das dritte... und jetzt will ich einfach nur noch, dass von ihr irgendein Lebenszeichen kommt. Sie atmet selbstständig, das ist es nicht, aber leben tut sie trotzdem irgendwie nicht.
Nach dem Kaiserschnitt wurde mir berichtet, dass es ein paar Komplikationen gab, aber sowohl meine Frau als auch unser Sohn am Leben seien. Meinen Sohn, damals noch namenlos, durfte ich noch nicht auf den Arm nehmen, dafür war er zu schwach. Meine Frau sollte spätestens nach wenigen Tagen wieder bei sich sein... Allerdings ist sie bis heute nicht aufgewacht.

Irgendwann kommt ein Pfleger rein, um irgendwelche Werte zu überprüfen oder so... Ich hauche meiner Frau noch einen Kuss auf die Stirn und mache mich dann direkt auf den Weg nach Hause. Hier werfe ich meine Wäsche in die Maschine, bevor ich mir schnell einen Kaffee mache. Amelie hat mir schon mehrmals geschrieben, also antworte ich einfach nur schnell, dass ich schon gefahren bin. Als mein Kaffee leer ist, schnappe ich mir dann meine Sachen, um meinen Sohn von seinen Großeltern abzuholen.

Als ich bei meinen Schwiegereltern klingle, wird mir nur weniger später von Toby geöffnet. Lächelnd schlage ich zur Begrüßung bei ihm ein, bevor ich reingehe und meine Schuhe ausziehe.
„Wie war die Tour?"
„Es war gut, wieder live zu spielen, aber es hat auch sehr an meinen Kräften gezerrt. Und bei dir? Wie sieht's mit dem Abi aus?"
„Ja, lief gut! Hab mit meinem Wunschdurchschnitt bestanden."
„Nice, Alter!" freue ich mich ehrlich für ihn.
Leo wäre so unglaublich stolz auf ihn!
„Papa!" kommt dann aber auch schon mein kleiner Junge runter getrampelt.
Grinsend hebe ich ihn hoch und vergrabe meine Nase in seiner Halsbeuge. Kili schlingt seine dünnen Arme um meinen Hals, was ich gänzlich genieße. Noch vor wenigen Monaten dachte ich, dass mir diese Tour mal wirklich guttun wird, aber jetzt mit meinem Sohn auf dem Arm weiß ich, dass genau das am besten für mich ist. Mein Sohn. Auch wenn er seine Mutter noch nicht richtig kennenlernen durfte, merke ich ständig wie ähnlich er ihr ist. Er hat die Augen seiner Mutter, das Lachen, die Lebensfreude, den Sturkopf... Er ist der Einzige, der mir ein wirklich ehrliches Lächeln entlocken kann. Seit vier Jahren. Trotzdem war ich bei jedem wichtigen oder auch nur im Ansatz wichtigen Moment erst unglaublich stolz auf meinen kleinen Jungen und im nächsten Moment hab ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass Leo dabei wäre. Einmal war sie es sogar, aber ob sie es mitbekommen hat... Keine Ahnung! Sein erstes Wort war tatsächlich Mama... wir saßen an ihrem Bett. Er auf meinem Schoß, während ich die Hand meiner Frau hielt und ihr von den neuesten Ereignissen bei uns erzählt habe.
Plötzlich hat er mal nicht nur einzelne Laute von sich gegeben, sondern ein nahezu perfektes -zumindest für mich perfektes- Mama.

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