Kapitel 22

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Heute morgen war ich früher wach als sonst. Der Anblick im Spiegel ließ mich etwas verdutzen. Ich hatte dicke, geschwollene und rote Augen. Na toll. Also sah man ganz genau, dass ich stundenlang geheult habe. Ich stellte mich auf die Waage und bemerkte, dass ich nicht weiter abgenommen habe, ich wog immer noch 66 Kg und das frustrierte mich nur noch mehr.

Aber vielleicht nimmst du doch noch etwas ab. An deinen Beinen.

Ich sah Paul ganz genau vor mir, wie er mir das sagte und nicht merkte, dass er mich verletzte. Der Blick im Spiegel bestätigte seine Aussage, an meinen Beinen musste ich abnehmen. Als ich aus dem Bad ging, machte ich ein kurzes Training für die Beine.

How to get legs like a Victoria Secret Angel

Das war natürlich mein Traum. Dieser aber nicht realistisch war. Nach dem ich fertig war zog ich mich um- ein langes braunes Oberteil und dazu schwarze Leggings mit braunen Stiefeletten, die ich mir von Caro genommen hatte.
Ich hoffte, sie würde es nicht merken.
"Guten Morgen.", sagte Mama in meine Richtung.
"Morgen."
"Hast du gut geschlafen?", fragte sie mit erstaunlich guter Laune, obwohl sie doch sauer auf mich sein sollte.
"Joa." Ich bin einmal in der Nacht aufgewacht weil ich schrecklichen Hunger hatte. Aber ich bin nicht in die Küche gegangen, und war wirklich stolz dadrauf.
Zumal ich auch viel zu müde war aufzustehen, die Treppen runter zu gehen und dann mich durch den Flur/ Küche zu schleichen, damit mich keiner hört.
"Schön.", sagte Mama und lenkte mich von meinen Gedanken ab. "Ich hab dir dein Brot gemacht."
Sie gab mir eine Pinke Brotdose. Meine Pinke Brotdose, in der sich immer mein Essen für die Schule befand. Ein Brot mit Käse oder Wurst, eine süße oder schokoladige Sache. Und- als perfekte Hausfrau die Mama doch war- eine Obstsorte. Bevor ich hier ein eine endlose Diskussion starten würde, nahm ich die Dose entgegen und murmelte ein Dankeschön.
Das Essen würde der Obdachlose auf dem Weg zur Schule bekommen, so viel stand fest. Gut für ihn- er stillt den Hunger, gut für mich- ich hungere. Es war schon ein Paradox, fiel mir dann auf.
Ich hungerte freiwillig, während es Leute auf der Erde gab, die dies gegen ihren Willen taten.
"Warum hast du es so eilig?", fragte Mama mich.
Ich wollte draußen sein, bevor Caro runter kam. Sie durfte nicht sehen, dass ich ihre Schuhe trug.
"Ähm, bin verabredet.", log ich.
"Lisa?"
Ich merkte, dass ich lange nicht mehr an Lisa gedacht habe, seit ich neue Freunde fand. Ich hatte sie wegen dem Abnehmen, Mama, Paul, Caro und Jonas total vergessen. Ich wollte ihr eigentlich schreiben oder telefonieren, um ihr die Lage zu erklären, aber ich hab es vergessen. Wenn ich heute früher kommen würde, würde Julia mich bestimmt nicht bemerken und dann könnte ich vorher mit Lisa reden. Also hatte ich einen weiteren Grund endlich den Fuß vor die Tür zu setzen.

*

"Dankeschön.", sagte der obdachlose Mann während ich ihm das Essen gab. "Bist du sicher, du willst das nicht selbst essen?" Er war in einer braunen Decke eingewickelt, hatte einen Hut vor sich in dem sich ein paar Münzen befanden und sah wirklich müde aus.
"Nein, überhaupt kein Problem, ich hab noch was."
Und dann fuhr ich weiter zur Schule. Ich eilte dann zu der Stelle wo Lisa und ich uns immer trafen. Aber sie war noch nicht da. Ich wartete und wartete, jedoch war von ihr keine Sicht.
"Hey Loser!", hörte ich jemanden rufen. Und gleich wusste ich wer es war.
Julia.
Ich schaute zu ihr hinüber. Sie war an der Ecke und winkte mir zu.
Nicht heute, Julia. Bitte nicht heute.
Warum war es ihr so wichtig mich zu integrieren...?!
Sollte ich weiter auf Lisa warten und Julia (JULIA?!) ignorieren? Oder sollte ich zu ihr gehen und mit Lisa ein andermal sprechen? Schließlich hat Lisa mich bisher noch nicht gesehen.
Ich entschied mich für Julia.
"Hab ich dir nicht gesagt du sollst nicht zu ihr gehen?", war das erste, was Julia sagte. Und sie wirkte ziemlich genervt.
"Ähm... ich... da war doch keiner."
Julia senkte ihren Kopf zur Seite. "Wen willst du hier verarschen? Mich, oder dich selber?"
Ich schaute sie überrascht an, denn ich verstand nicht, warum sie plötzlich so gemein war.
"Du" sie tippte mir mit ihrem Zeigefinger auf meine Schulter. "gehörst zu uns. Nicht zu ihr. Wann kapierst du das endlich?"
Warum?, fragte ich mich wieder. Warum war ihr das so wichtig?
"Ja.", sagte ich nur und ließ es zu.
"Also Schätzchen. Wie war es gestern mit Paul?"
"Ähm, schön.", log ich. "Er hat gekocht, wir haben ein Film geguckt. Geredet. Gelacht. Das Übliche halt."
"Och wie schön." Sie legte ihren Kopf schief und lächelte, als hätte sie einen guten Einfall. „Wie wäre es mit einem Doppeldate? Du und Paul. Ich und Jason."
Nein, nein, nein, Danke! Nicht Jason.
"Seid ihr ein Paar?", fragte ich um das  Thema zu wechseln.
Wir schauten beide in seine Richtung. Er grinste und nahm einem Jungen die ganze Zeit die Kappe vom Kopf, auch wenn er sie immer wieder aufsetzte.
Kindisch.
"Hmm... naja, eher nein. Aber er ist ein schöner Zeitvertreib." Sie zwinkerte mir zu. "Also? Treffen wir uns um beim Chinesen zum Essen? Oder wieder italienisch? Aber ehrlich gesagt hätte ich auch Lust auf griechisch."
"Ähm... Julia du weißt ja dass ich abnehme. Das ist viel zu kalorienreich für mich."
Ich hoffte sie verstand, aber es sah nicht danach aus.
Es war ähnlich wie dieser komische Moment in der Pizzeria wo sie mir die Pizza aufgezwungen hat. Die unheimliche Schadenfreude. 
"Och bitte. Tu es für mich." Sie zog einen Schmollmund.
"Okay.", sagte ich automatisch, denn Julia verschlug man keine Bitte. Dann lächelte ich sie noch an, um ihr zu zeigen, dass ich es ernst meinte. "Das freut mich." Nicht.

"Super. So mag ich dich, Elena." Es klingelte zum Unterricht, Julia legte einen Arm um meine Schulter und so gingen wir ins Gebäude, sodass wir so aussehen als seien wir beste Freunde, während es eigentlich ziemlich heikel zwischen uns war. Doch das konnte Julia gut. So zu tun als wäre alles perfekt und in Ordnung. Und auf dem Weg, während wir uns umdrehten, sah ich Lisa.
Sie war nicht auf unserem Stammplatz.
Sie saß weiter hinten und musste alles gesehen haben. Sie musste gesehen haben, dass ich da gewartet habe und dass Julia mich dann zu sich geholt hat. Und mich überkam ein schlechtes Gewissen.

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