Kapitel 67

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Ein Tag mehr war wie ein Tag weniger, dachte ich mir jedes Mal, wenn ich in meinem Bett lag und den ganzen Tag Revue passieren ließ.
Wie ich von den Schwestern schikaniert wurde. Wie mich alle Patienten ignorierten und wie alleine ich mich fühlte.
Und natürlich kreisten meine Gedanken die ganze Zeit um Amanda, die mittlerweile seit einem Monat unter der Erde in dem Sarg lag.
Ich wollte hier unbedingt raus, da ich es nicht mehr ertrug durch die Gängen zu gehen, in denen Amandas Geist schwirrte. Ich ertrug es auch nicht mehr von den Schwestern so schlecht behandelt zu werden. Und ich ertrug es nicht mir mit Sophia ein Zimmer zu teilen, weil wir nicht mehr miteinander sprachen, und uns nicht einmal anschauten.

Deswegen gab ich mein Bestes was das Zunehmen anging.
Nicht nur deswegen, ich sehnte mich auch nach einem Leben wo das alles keine Rolle mehr spielte, wo mich keiner bewachte und ich frei war.
Dass meine Probleme nicht mein Gewicht sondern Streitigkeiten in der Schule waren.
Und diese Gedanken kamen mir jede Nacht in dieser Klinik.
Immer wieder motivierten sie mich zu essen, sogar mehr als das was auf dem Ernährungsplan drauf stand.

Woche für Woche verging. Jeden Sonntag kam Sebastian zu Besuch um mit mir zu sprechen. Ich vertraute ihm nämlich alles, erzählte ihm alles was mich bedrückte, nur dass ich ihm nicht sehr nahe war.
Abgesehen davon taten seine Besuche so gut. Außer Sabrina, einem Menschen da zu haben den man mag und mit dem man über alles sprechen konnte.
Als die Besuche sich häuften, hat Schwester Fiona Sebastian einmal weggeschickt, und meinte, dass ich aus keinen Umständen Besuch empfangen dürfe. Sonst wäre die Versuchung wieder abzuhauen viel zu hoch.

Damit bin ich zu Sabrina gegangen, weil mich diese Sache mega wütend gemacht hat. Von wegen, die Versuchung wäre höher, sie wollte mir nur einen reinwürgen.
Und als ob ich es wagen würde hier noch einmal auszubrechen, lieber würde ich eine Schüssel voll mit Insekten essen.
Ich war so froh, dass Sabrina ein netter Mensch, mit menschlichem Verstand und einen großen Herz war, denn sie hat Sebastians Besuche erlaubt.


Es war wieder Sonntag, Sebastian saß schon an unserem Treffpunkt, dort wo wir uns das erste mal unterhalten haben, draußen an einem Tisch. Und ich kam gerade auf ihn zu.
"Hey Elena.", sagte er.
"Hi." Ich setzte mich zu ihm und lächelte ihn an. Mein Blick wanderte dann zu dem Buch und den Heften, die er vor sich liegen hatte.
"Ich hoffe das macht dir nichts aus, ich schreibe morgen eine Klausur in Mathe."
"Mathe? Ich liebe Mathe."
"Jetzt im Ernst?", fragte er lachend.
"Ja. Ich weiß das hört sich komisch an, aber Mathe ist eins meiner Lieblingsfächer. Es ist so logisch, und manchmal fordert das einen heraus. Und es gibt nichts schöneres als Rechnungen richtig zu lösen."
"Du bist krank.", erwiderte Sebastian lachend.
"Bald nicht mehr! Ich hab schon sechs Kilo zugenommen."
"Wow, super.", sagte er und lächelte mich stolz an. "Fühlst du dich... du weißt schon unwohl in deinem Körper?"
"Nein. Das wundert mich ehrlich gesagt. Eigentlich dachte ich, dass ich mich wieder zu fett fühle, aber es ist alles vollkommen normal. Ich sehe selber noch Stellen an meinem Körper an denen ich zulegen muss."
"Elena, das macht mich so enorm glücklich."
Ich lächelte ihn an, da ich wirklich dankbar um seine Bekümmertheit war. "Ich dachte ich müsste dir immer wieder einreden, dass du zu dünn bist und-" er verstummte.
"...Und was?"
"Und, dass du wunderschön bist." Sein Lächeln war verschwunden und er schaute auf seine Mathe Sachen. "Okay Frau Doktor Professor Elena, mit ihren Titeln im Themengebiet Mathematik und Physik. Haben Sie eine Ahnung wie die Null- Hypothese dieser Vermutung lautet?"
Ich lachte. "Doktor und Professor in Physik? Nein danke."
Er stimmte dann mit dem Lachen ein. "Mathe und Physik sind doch wie... Karotte und Möhre genau das gleiche, mit zwei verschiedenen Namen."
"Nein, Sebastian. Physik beschäftigt sich mehr mit der Naturwissenschaft, Mathe mit Kalkulation."
"Du musst es wissen.", sagte er schulterzuckend. "Jetzt aber ohne Spaß, was ist die Null- Hypothese dieser Vermutung?"
Ich schaute mir die Aufgabe an und konnte ihm helfen, erst recht da das Thema Hypothesen Tests einer meiner Lieblingsthemen war. Es war so einfach und so logisch. Wir lösten alle Aufgaben zusammen und ich hatte das Gefühl, dass er das Thema besser verstand als anfangs.
"Also wenn es ein linksseitiger Test ist, dann ist die obere Schranke unbekannt?", fragte er.
"Genau. Dann musst du dafür x einsetzen und die Irrtumswahrscheinlichkeit in der Wertetabelle ablesen."
"Und wenn ich den Wert bei 0,05% finde, dann fängt dort der Ablehnungsbereich an."
"Genau richtig."
"Danke Elena, wirklich. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte."
"Ganz einfach, du wärst durchgefallen."
"Jep. Da hast du recht.", antwortete er lachend.

Er packte dann seine Mathe Sachen weg und ich erzählte ihm von meinem Tag.
"Jedenfalls hat Sabrina dann gesagt, dass wir uns in einem Tier vorstellen sollen. Ines meinte dann im Ernst, dass sie ein Leopard wäre. Wieso? Weil sie die Tiere so hübsch und geschmeidig findet. Sie seien Eleganz in Person und die Models imitieren ihren 'Catwalk'. Sebastian, hörst du mir überhaupt zu?", fragte ich als er nun zum vierten Mal an mir vorbei schaute.
"Ähm ja.", antwortete er. "Sorry."
Er schaute mir wieder über die Schulter also drehte ich mich um und dann sah ich auch, was er sah.

Ein gutgebauter, braunhaariger und grünäugiger Junge der auf uns zu kam.
Ein Junge, der mich mit 'Hey Ginger' grüßte.
Jonas.
Ich stand auf und war erstmal überfordert mit der Situation, dann lief ich ihm aber in die Arme.

"Jonas!"
"Hey Ginger." Er schaute mich warmlächelnd an, legte sein Zeigefinger an meinem Kinn und küsste mich dann sachte auf die Lippen.
Als er sich von mir löste, schaute er nicht mich, sondern Sebastian an. Und ich merkte ganz klar, dass er angespannt war.
"Elena, wer ist das?", fragte er mich dann.

"Oh entschuldigt." Ich hielt Jonas an meiner Hand und führte ihn dann zu dem Tisch, an dem Sebastian und ich saßen.
"Sebastian, das ist Jonas, Jonas, das ist Sebastian."
Beide nickten sich kurz zu.
Dann war Sebastian derjenige, der den ersten Schritt machte und seine Tasche und Jacke nahm.

"Ich geh dann mal. Danke Elena für deine Hilfe."
"Sebastian du kannst noch bleiben."
"Nee ich muss... noch ein paar Sachen zu Hause erledigen." Er lächelte mich kurz an. "Bis dann."
Er ging schon, bevor ich etwas erwidern konnte.

"Warum hast du mir nie von ihm erzählt, Schatz?", fragte Jonas dann.
"War nicht der Rede wert." Er musterte mich. "Er sieht gut aus, war sehr freundlich und die Art wie er dich angeschaut hat, sagt alles."
"Was willst du damit sagen Jonas?"
"Ich will damit sagen, dass ich eifersüchtig bin.", sagte er lächelnd und zog mich enger zu sich.
"Das brauchst du nicht. Er ist nur ein guter Freund."
"Von dem du mir nie erzählt hast."
"Es tut mir leid, ich hätte dir von ihm erzählen sollen." Er erwiderte erst mal nichts.
"Alles okay?", fragte ich ihn.
"Küss mich.", sagte er. "Dafür bin ich gekommen.", fügte er noch lächelnd hinzu.

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