Kapitel 45

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"Stehst du manchmal mitten in der Nacht auf und hast einen schrecklichen Hunger?", fragte mein Arzt.
Ja. Ich kannte das nur zu gut, wenn ich mitten in der Nacht aufstand, eine Fressattacke bekam um dann wieder alles auszukotzen.
"Nein.", antwortete ich jedoch. Daraufhin notierte er sich etwas.
"Ist es schonmal vorgekommen, dass du etwas gegessen hast, und es gleich daraufhin durch Übergeben losgeworden bist?"
"Nein."
Auch das notierte er sich, wobei mir sein tiefes, genervtes Seufzen nicht entging. Er glaubte mir nicht.
"Du kannst aufrichtig zu mir sein. Deine Mutter ist nicht hier und alles was du sagst verlässt nicht den Raum."
Ich zuckte mit den Schultern und schaute mich in dem Zimmer um.
Es war eine schöne Einrichtung. Viele schöne Bilder. Einpaar Pflanzen. Und der Geruch von Lavendel hing in der Luft.
"Ist dir oft schwindelig?"
Auf den Bildern waren in komischer Form Elefanten dargestellt. Es war so abstrakt, dass es wieder schön war.
"Nein.", antwortete ich.
Auch die künstlichen Tulpen sind mir nicht entgangen. Es war ein schönes Farbspiel, erstrecht, da es super gut zur Wand Farbe passte.
"Wie ist es denn mit deiner privaten Angelegenheiten? Hast du gute Noten?"
Der Blick aus dem Fenster war nicht gerade schön gewesen. Es regnete und prasselte laut an dem Fenster, doch trotzdem sehnte ich mich rauszugehen um diesem Herrn Doktor nicht weiter anzulügen.
"Ja."
Er schwieg kurz und rückte seine Brille zurecht. Dann verschränkte er die Hände ineinander und schaute mich ernst an.

"Leben deine Eltern zusammen?"
Also diese Frage brachte mich aus meinem- ich- gucke- durch- den- Raum- und- tue- so- als- würde- mich- nichts- interessieren- Konzept. Was hat die Beziehung meiner Eltern mit meiner sogenannten Essstörung zu tun...?!
"Nein. Sie haben sich vor ein paar Monaten getrennt."
Sofort schrieb er dies auf sein Zettel. Na toll. Jetzt wurde ich als bemitleidetes Scheidungskind etikettiert, was meine 'Essstörung' erklärt.
"Fühlst du dich zu Hause wohl?"
"Ja."
"Wirst du in der Schule... gehänselt? Aufgrund deines Gewichts?"
"Nein." Obwohl mir ganz bewusst klar war, dass dies wohl der Fall war. Erst als ich fett war. Und auch jetzt, weil alle meinten ich sei zu dünn.
"Hand auf's Herz, fühlst du dich zu dick?"
"Nein.", antwortete ich.
Er seufzte wieder und ich hatte das Bedürfnis ihm das Glas Wasser, was er mir eben in die Hand gedrückt hat, ins Gesicht zu schütten.
"Okay, gut. Ich möchte ein paar Test durchführen. Dafür musst du alles, bis auf deine Unterwäsche ausziehen."
Jetzt wollte ich ihm nicht nur das Wasser ins Gesicht schütten, sondern gleich auch das Glas ins Gesicht werfen. Aber ich musste mich beherrschen um keinen Verdacht zu erwecken.
"Sowie ich gedacht habe.", sagte er eher zu sich, als zu mir. "Du trägst sehr viele Kleidungsschichten, weil dir zum einen kalt ist, zum anderen zu retuschieren wie dünn du eigentlich bist." Er kam näher zu mir. "Darf ich?", fragte er und war in Begriff meine Haut zu berühren.
Es ist nur ein Arzt. Nur ein verdammt neugieriger und gut informierter Arzt.
"Ja."
Er berührte sachte meine Rippen. Seine Hände waren kalt, und ich fing zu zittern an.
"Diese Rippen sollten von Speck geschützt werden." Als er merkte, dass ich nichts dazu sagte, fuhr er fort. "Solch einen Körperbau haben Menschen in Afrika, die es jeden Tag mit dem Hunger und dem Tod zu tun haben. Das Schlimme ist ja, dass du freiwillig hungerst. Das ist paradox und nicht in Ordnung. Es ist auch schlimm, dass du mich angelogen hast. Jedes Wort."
Ich schaute weg. Ja er hat mich ertappt. Was habe ich mir dabei auch eingebildet?
Er war Arzt und war genauestens informiert. Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich ihm die Wahrheit gesagt hätte.
"Elena, ich habe diagnostiziert, dass du unter Magersucht leidest."

*

Ich knallte die Tür zu und drehte die Tür in den Schloss.
"Elena wir werden gleich ausführlich darüber reden!", schrie Mama. "Du kannst nicht einfach die Tür zu knallen!" Bestimmt bereute sie, dass sie mir wieder meine Zimmertür gegeben hat. Doch ich antwortete nicht. Warum auch? Es konnte nicht schlimmer werden als es ohnehin schon war.
Dieses ausführliche Gespräch hat bisher nie stattgefunden. Dafür ein anderes.
Als ich einmal aufs Klo ging, hörte ich Mama von unten flüstern.
Es hatte mich neugierig gemacht und meine Theorie hatte sich bestätigt. Sie hat mit Papa über mich gesprochen. Vielleicht würden sie sich ja versöhnen oder ähnliches.
Nun saß ich in der Küche und Mama hatte mir ein Teller vorbereitet. Ich schaute den nur an, und Mama schaute mir dabei zu. Als sie anfing zu reden, wusste ich, dass dieses 'Gespräch' nun stattfinden würde.
"Warum nimmst du denn ab? Du bist doch dünn genug."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Okay ich konnte verstehen, dass du abgenommen hast, weil du einmal übergewichtig warst. Aber warum jetzt? Das sieht langsam nicht mehr schön aus."
Erneut zuckte ich mit den Schultern.
"Ich glaube ich ziehe in Erwägung was dein Arzt gesagt hat."
Erschrocken schaute ich auf.
Jetzt konnte ich nicht mit den Schultern zucken. Er beharrte darauf, dass ich in eine Klinik komme.
Eine Klinik, die mich mit verschieden Methoden dazu zwingt zu essen.
Eine Klinik in der viele Magersüchtige sind. Eine Klinik die voller Essen ist. Keine Freiheit. Nur zunehmen ist angesagt.
"Nein, Mama, bitte nicht." Ich konnte nicht anders als weinen und Mama anzuflehen, das nicht zu tun. "Ich will überhaupt nicht in die Klinik. Überhaupt nicht."
Mama seufzte und schaute weg. "Es geht nicht anders. Du bist ernsthaft krank und wir kriegen das hier in der Küche nicht gelöst."
"Mama, bitte, ich schaffe das. Ich esse auch den Teller auf!"
"Dann gehst du hoch, kotzt es aus oder tust Sport. Du hast immer eine Methode gefunden um mich reinzulegen." Sie schwieg kurz. "Ich vertraue dir nicht mehr Elena."
Damit stand sie auf und ließ mich alleine.
Jetzt heulte ich richtig. 
Wie konnte sie mir so etwas antun?

Federleicht Where stories live. Discover now