Kapitel 53

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Mehrere Wochen sind vergangen, hier in der Klinik. Frühstück- Unterricht- Mittagessen- Selbsthilfegruppe- Freizeit. Sieben mal die Woche. Nonstop. Nur heute war ein besonderer Tag. Ich darf meinen ersten Besuch empfangen und ich wusste nicht wer es war. Ich stand von meinem Bett auf und ging dann zu dem Raum, der mir zugeteilt wurde im mein Besuch zu empfangen. Innerlich hoffte ich natürlich auf eine Person, und zwar Jonas. Es wäre schon schön wenn Mama hier aufkreuzen würde, aber bei ihm würde ich mich am meisten freuen.
"Elena? Dein Besuch wartet schon.", sagte mir die Frau an der Theke und deutete auf die Sitzecke.
Es war eine Frau. Ein junges Mädchen. Es war Caro. Mit ihr hätte ich am wenigsten gerechnet.
"Elena.", sagte sie als sie sich umdrehte. Sie kam gleich zu mir und umschloss ihre Arme um mich.
"Hi Caro.", sagte ich nur. Sie schaute mich lange an, dann musterte sie mich von oben bis unten.
"Hast du schon zugenommen? Wann kommst du wieder nach Hause?"
"Vermisst du mich da?"
Sie schaute weg. "Total. Mama ist total am Boden zerstört, weil sie denkt, dass du sauer auf sie bist. Und natürlich ist sie immer noch nicht über Papa und Kristina hinweg."
Ich konnte es mir genauestens vorstellen wie spät am Abend, die Sonne schon längst untergegangen, es stockdunkel im Wohnzimmer war, und Mama dort frustriert, mit einem Kaffe in der Hand, saß, und vor sich hin starrte. Ich würde auch nicht gerne in Caros Haut stecken.

"Oh.", sagte ich nur.
"Du musst wieder zurück. Mama geht es wirklich nicht gut. Man muss kein Arzt sein um zu diagnostizieren, dass sie Depressionen hat."
Outsch. Das zu hören tat mir echt weh, mehr als erwartet.
"Ich kann hier nicht einfach raus."
"Du musst doch nur zunehmen."
"Nur ist gut. Das ist schwerer als du denkst."
"Wenn du es willst kannst du es. Du hast ja auch das Gegenteil geschafft, von ganz übergewichtig zu-" Sie deutete auf meinen Körper. "Komm schon Elena. Versprich mir, dass du wieder kommst. Dann wären wir annähernd wieder eine Familie."

Ich seufzte. "Was ist mit Papa?"
"Der ruft jeden zweiten Tag an um sich über dich zu erkundigen."
"Was?!", fragte ich und war total hell wach. Seit wann...? Und warum? "Jetzt im Ernst?"
"Ja. Er macht sich totale Sorgen um dich und will dass du wieder zurück kommst. Gesund natürlich."
"Hätte ich nicht erwartet."
"Wer glaubst du wohl bezahlt dir diesen Luxus?"
Stimmt. Mama konnte nicht so viel Geld aufbringen.
"Eigentlich wollte Papa dich heute besuchen kommen, aber ich habe mich durchgesetzt." Dann verdrehte sie die Augen. "Dann wollte er bestimmt mit dieser Hure kommen, das wollte ich dir nicht antun."
"Und was ist mit Mama?", fragte ich. "Wollte sie nicht kommen?" Eigentlich wollte ich wegen Jonas fragen, das interessierte mich am meisten. Warum war er nicht hier? Das würde mich mehr motivieren hier schnell rauszukommen. Nicht, dass mich Caros Anwesenheit nicht erfreute, eigentlich wunderte es mich im positiven Bereich. Früher hätte sie sich überhaupt nicht um mich gekümmert. Und jetzt kam sie den ganzen Weg hierher.
"Mama konnte nicht. Und sie dachte es würde dir nicht guttun wenn sie kommt. Wie gesagt, sie denkt du hasst sie."
Oh, nein. Sie war immer noch meine Mutter. Ich schaute Caro an, traute mich aber nicht wegen Jonas zu fragen. Das war mir dann doch zu peinlich.
"Willst du nicht wissen was mit Jonas ist?", fragte sie dann das unausgesprochene.
Ich nickte vorsichtig. Wenn sie fragte, musste es etwas erzählenswertes geben.
"Er ist die ganze Zeit busy. Anfang letzter Woche hat er Besuch von einem Mädchen bekommen, die mit viel Gepäck gekommen ist. Sie wohnt immer noch bei denen zu Hause."
Ich wusste nicht, ob Caro es gesehen hatte, aber ich wurde eine Spur blasser und mir wurde schlecht.
Jonas hatte also gleich einen Ersatz gefunden. Am liebsten wollte ich jetzt laut heulen, aber irgendwie kam nichts. Meine Kehle war zugeschnürt, ich atmete nicht mehr.
"Hey, chill.", sagte Caro und lächelte. "Nicht, dass du hier jetzt umkippst oder so."
Ich schaute weg und massierte mir den Nasenrücken um einen klaren Kopf zu bekommen. Jonas hatte ein Ersatz gefunden.
"Das ist nicht lustig.", stammelte ich, als ich Caros Lächeln sah.
"Doch. Wenn du wüsstest wieso."
Ich schaute sie ernst an.
"Ich als deine Schwester konnte ja nicht nur still zugucken. Also bin ich zu den Eltern gegangen und hab gefragt wer diese Snitch ist."
"Und wer ist es?", fragte ich ungeduldig als Caro zu reden aufhörte.
"Ich sage es dir wenn du mir versprichst fünf Kilo zuzunehmen."
"Ist das dein Ernst?!"
"Elena, ich liebe dich. Du bist meine Schwester und ich möchte dich wieder zu Hause haben. Es ist alles so anders ohne dich und ich hätte selbst nicht gedacht, wie sehr ich dich vermissen werde." Sie meinte es ernst. Ich merkte es an ihrem Blick und der Art wie sie mich festhielt. Ich kannte sie zu gut, sodass ich ihre Lügen feststellen konnte. Aber jetzt war sie aufrichtig. Mehr als aufrichtig.
"Okay.", sagte ich. "Ich verspreche es."
"Gut, dann kriegst du einen Brief sobald diese Fiona Mama und mir mitteilt, dass du fünf Kilo zugenommen hast."
"Warte mal. Du möchtest mich warten lassen?" Ich konnte es nicht fassen. Wie würde ich es aushalten mit der Ungewissheit?
"Wenn du an meiner Stelle wärst, würdest du das gleiche tun. Ich will dich wieder zurück haben. Zu Hause und das gesund. Du musst mir vertrauen."
Ich seufzte. Dagegen konnte ich nichts tun. Ich musste also fünf Kilo zunehmen um herauszufinden was es mit dem Mädchen auf sich hatte.
"Und zweitens, berichtet Schwester Fiona euch alles was ich hier tue?", fragte ich dann.
"Ja klar. Fast jeden Abend kriegen wir ein Bericht davon, was du gegessen hast, wie viel, ob du danach auf Klo gegangen bist und so was."
Wow. Krass, das wusste ich gar nicht.
"Okay Schwesterherz wir haben noch eine halbe Stunde. Zeigst du mir die Einrichtung?"
Ja. Das tat ich.
Als wir wieder vor der Tür standen und wir uns verabschiedeten versuchte ich noch etwas herauszubekommen, aber es kam nichts.
"Aber woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?", fragte ich sie.
"Ich wusste dass du mich das fragen wirst."
Sie kramte ihr Handy aus und zeigte mir ein Bild von der Veranda des Hauses. Ich sah Jonas und mir wurde gleich warm ums Herz. Ich habe ihn sosehr vermisst. Aber er hatte den Arm um ein anderes Mädchen und sofort hatte ich Tränen in den Augen.
"Es tut mir leid.", flüsterte Caro. "Ich wollte dir das eigentlich nicht zeigen."
Als ich nichts erwiderte, sondern nur noch mehr weinte, bis ich laut schluchzte hörte man meinen Trauer durch den Echo die ganzen Flure entlang.
"Psscht.", sagte Caro und hielt mich tröstlich ganz fest. "Ich würde dir gerne sagen wer das ist, aber mir ist im Moment wichtiger dass du gesund wirst. Gesundheit geht vor weißt du das? Und ich will nicht dass du... stirbst nur weil du denkst, dass du fett wirst. Ich will deine Rippen nicht mehr zählen können." Und dann wurden auch ihre Augen glasig. "Elena ich vermisse dich sosehr."

*

Ich fühlte mich wie in einem Kokon, weil ich den ganzen Tag in meiner Decke eingerollt war. Sophia fragte mich wie es mir ging, aber ich hatte echt überhaupt keine Lust mit ihr zu reden.
Also ließ sie mich glücklicherweise in Frieden. Es klopfte an meiner Tür als ich kurz vorm Einschlafen war.
"Herein.", murmelte ich. Bestimmt war das Schwester Fiona die mich wiegen wollte. Aber es war nicht Schwester Fiona. Es war Sebastian.
"Darf ich reinkommen?", fragte er mich.
Ich wischte mir die Tränen weg und setzte mich hin.
"Ja.", sagte ich.
"Du warst den ganzen Tag nicht da, und ich hab mir Sorgen gemacht."
"Alles gut.", antwortete ich und es rührte mich, dass er sich Sorgen gemacht hatte.
"Was ist den los?" Sebastian setze sich neben meinem Bett und hielt meine Hand. Es war eine tröstliche Geste.
"Mein Freund hat einen Ersatz gefunden. Naja mein Ex."
"Oh das tut mir leid.", sagte er.
"Ich tue mir auch leid."
"Also hast du jetzt keine Motivation hier rauszukommen?"
Ich schaute ihn an und dachte über das nach, was er sagte.
"Ehrlich gesagt bin ich hin und her gerissen."
"Du darfst hier nicht deine Jugend verbringen.", sagte er. "Leute wie Amanda sind hier schon seit Ewigkeiten, weil sie nicht zunehmen. Erst wenn sie 18 sind dürfen sie über sich selbst entscheiden."
"Ich will hier auch nicht bleiben.", sagte ich wahrheitsgemäß. "Aber ich weiß auch nicht was ich alternativ will."
"Hör zu. Wir können zusammen hier raus, okay? Wir nehmen zu und leben unser Leben weiter. Ohne jeden Tag jemanden am Rücken zu haben der aufschreibt was man isst. Oder diese Selbsthilfegruppe. Und auch nicht diese blöden Einzelgespräche zu haben. Das Leben ist besser ohne das alles." Es hörte sich wirklich verlockend an. Vor allen Dingen tröstlich.
"Aber glaubst du, du schaffst es nach Hause zu gehen und da normal weiter zu essen? Ohne Waage, kotzen oder Kalorienzählen?"
"Ja.", sagte er sicher, was mir Hoffnung verschaffte. "Ich weiß, dass wir es schaffen."
Und dann verspürte ich einen Schimmer Hoffnung.

Federleicht Where stories live. Discover now