Kapitel 51

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Eigentlich würde ich heulen oder ein Zusammenbruch kriegen von dem was ich gegessen habe. Ein Vollkornbrötchen mit Käse und einen Kakao. Dazu auch noch Gemüse und Obst, sodass ich wirklich satt war. Es war aber halb so wild, beziehungsweise war es gerade noch auszuhalten, weil ich mich gut mit Sebastian unterhielt. Auch er hat sein ganzes Essen aufgegessen und war gut gelaunt, all seinen Witzen und Scherzen zu urteilen.
"Wow, Sebastian, super Leistung!", sagte eine andere Schwester beimVorbeigehen.
"Was meint sie?", fragte ich.
"Ich habe mein ganzes Essen aufgegessen. Eigentlich tue ich das nie."
"Ah okay."
Wir wurden abrupt von unserem Gespräch unterbrochen, da plötzlich jemand anfing zu schreien. Es war ein Mädchen, die lauthals kreischte, ihr Hals würde ihr später sicher fürchterlich wehtun.
"Kennst du sie?", fragte ich leise, denn es war im ganzen Saal still, alle beobachteten das Geschehen.
"Ja, das Mädchen weigert sich total zu essen. Gestern hat sie schon nichts gegessen und man hat mir mit der Sonde gedroht."
"Sonde?", fragte ich etwas beunruhigt.
"Das ist schrecklich. Man kriegt Nahrung mit Schläuchen durch die Nase getrichtert."
Mir entfuhr ein kalter Schauder. Also blieb mir überhaupt nichts übrig, als zu essen. Zurzeit beruhte dies auf Freiwilligkeit, aber nur, damit ich den Schwestern anfangs etwas Vorspielen konnte. Ich wollte, dass sie glaubten, ich würde nach ihrer Nase tanzen und gestehen, dass ich zu dünn war. Ich wollte, dass sie mir vertrauten. Aber jetzt merkte ich, dass dieser Plan nicht funktionierte, hier musste man zunehmen.
Zwei Schwestern packten das Mädchen und führten es, gegen ihren Willen raus.
"Ich will nicht!", kreischte sie so laut, dass alles ruhig wurde und alle nur sie anschauten. "Ich will nicht!" Schnell wand ich den Blick ab, da ich dieses Fiasko nicht mehr beobachten konnte.
"Und das wird gegen ihren Willen durchgezogen?", fragte ich Sebastian.
"Ja. Deine Erziehungsberechtigten haben das unterschrieben. Und wenn du minderjährig bist, ist das eine beschlossene Sache."

"Wow. Das ist irgendwie brutal."
"Ja, glaub mir es ist auch nicht so angenehm."
"Also musstest du das schonmal machen?"
"Ja. Ganz am Anfang habe ich mich total dagegen gewehrt zu essen. Dann habe ich immer ein bisschen gegessen. Und heute alles, ohne dass ich es gemerkt habe, das erste Mal überhaupt."
"Wie findest du das? Brauchst du Mitleid und ein Täschteln? Oder ein Applaus?"
Er lächelte mich an. "Keine Ahnung. Ich weiß, dass ich zu dünn bin. Und ich will zunehmen aber ich kann nicht."
Mir wurde warm ums Herz, aber warum nur? Weil er das aussprach, wonach ich mich vollstens sehnte? Gesund zu sein und so aussehen wie Sabrina? Wir schauten uns kurz stumm an, ich wusste nicht, was ich dazu erwidern sollte.
"Zeit zum Unterricht!", sagte dann Schwester Fiona. Von wegen sie würde sich nicht bemerkbar machen.

*
Es war nicht so ätzend wie in der Schule. Und irgendwie konnte ich mich wieder total konzentrieren (lag wohl an dem heftigen Frühstück). Wir saßen in einem kleinen Raum und vorne stand eine Lehrerin, die mit uns Mathe unterrichtete.
"Wow bist du immer so gut?", fragte Sebastian mich nach dem ich eine Aufgabe mit Niveau drei löste.
"Schon lange nicht mehr. Aber ich war mal Klassenbeste."
"Du warst mal? Wie kann man das auf einmal nicht mehr sein?"
"Abnehmen. Daran muss es gelegen haben."
"Oh.", sagte er nur und verstummte. Dann rechnete er weiter. Die Zeit verstrich und nach dem wir noch ein paar andere Fächer durchgekaut haben, gingen wir raus. Sebastian und ich unterhielten uns über die Anstalt hier und ich fragte ihn wie er Sabrina findet.
"Voll nett. Sie tut mir aber echt leid. So viel studiert in alles um hier zu arbeiten."
Ich wusste nicht ob ich zustimmen sollte. War es schlimm hier zu arbeiten? Wahrscheinlich ja. Oder nicht? Schreiende Mädchen, die sich dagegen wehrten zu essen. Mädchen immer wieder aufs neue zu erinnern, dass sie zu dünn sind, dass sie hübsch sind und dass sie damit aufhören sollen. Ja es war anstrengend. Sehr anstrengend sogar.

"Oh da ist ein Eindringling.", scherzte Sebastian dann und schaute mir über die Schulter.
Ich wollte nicht so auffällig gucken, aber ich musste, als ich die Stimme erkannte.
"Ich verstehe, dass Elena noch nicht besucht werden darf, aber jetzt bin ich schon den ganzen Weg hierher gekommen!"
"Es ist mir aber nicht erstattet Sie hereinzulassen. Das spricht gegen den Regeln." Ich war etwas überrascht und überfordert. Da vorne ging es um mich.
"Geht es da um dich?", fragte Sebastian mich.
Ja. Allerdings. Ich stand langsam auf und ging zu ihnen. Zu Lisa. Sie war immer noch am diskutieren, bis sie mich sah und verstummte.
"Elena?", fragte sie vorsichtig.
Unerwartet ging sie mit schnellen Schritten zu mir und umschloss mich in ihren Armen.
"Was machst du hier?", fragte ich sie überfordert.
"Ich wollte mit dir reden." Ich war etwas überwältigt und wusste nicht, über was sie sprechen könnte. Ich schaute auf das Schild der Schwester. Ramona hieß sie.
"Bitte Schwester Ramona. Sie ist meine beste Freundin und wir reden nur kurz." Sie seufzte.
"Okay. Aber ich habe das hier alles nicht gesehen." Sie drehte sich um und ging.
"Beste Freundin?", fragte Lisa verwundert,
"Ich brauche ein gutes Argument." Es war so komisch sie hier zu sehen. Mit normalem Gewicht. Und da wir schon so lange nicht mehr miteinander gesprochen haben. Und das war alles Julias Schuld. Naja und vor allen Dingen meine. Ich erinnerte mich als wir in der Cafeteria der Schule saßen und so taten, als würden wir über Lisa und Tina lästern.Warum war sie also hier?
"Bald wird dich jemand bemerken, du fällst hier schon auf."
"Okay. Ich bin hier weil ich dich sehen wollte."
Ich konnte nicht anders als die Stirn zu runzeln.
Daraufhin seufzte sie. "Schon gut, guck mich nicht so an! Ich fühle mich schuldig. Schuldig dafür dass du hier bist und-" Sie zeigte auf mein Körper. "Und dass ich nichts dagegen getan habe."
"Ich war bei Julia.", gab ich zu.
"Genau. Ich war total eifersüchtig und konnte es nicht ausstehen, dich mit ihr zu sehen, sie hat mir meine beste Freundin weggenommen."

"Aber jetzt hast du ja Tina."
"Elena mach es mir nicht schwerer als es ohnehin schon ist."
"Sorry." Sie knetete ihre Hände und daran merkte ich, dass ihr das alles etwas unangenehm war.
"Ich habe zugesehen wie du krank wurdest und nicht mehr rauskamst. Als du immer mehr abgenommen hattest, hätte ich auf dich zu gehen müssen. Aber jetzt bist du hier. Es hätte viel schlimmer enden können.... du weißt schon.."
"Ja mit dem Tod. Aber das wäre nie passiert, dafür wiege ich noch zu viel."
"Unterschätze das nicht.", sagte sie. "Ich habe mich dann mit der Krankheit auseinander gesetzt. Und damit ist echt nicht zu spaßen."
"Bist du deswegen hier? Um mir zu sagen wie schlimm Magersucht ist?"
"Unter anderem, ja." Sie schaute sich um. "Ich möchte mich aber auch dafür entschuldigen, dass ich die ganze Zeit nichts getan habe und nicht auf dich zugegangen bin."
"Entschuldigung angenommen. Es tut mir auch leid, dass ich mich auf Julia eingelassen hab, obwohl wir sie beide so hassten. Ich hätte wissen sollen, dass es so endet wie es endet."
"Ich würde das gleiche tun.", antwortet sie schief grinsend. "Wenn Julia mich in ihrem Kreis aufnimmt."
"Gut, dass das nie passiert ist, sie spielt kranke Spiele." Wir lachten beide kurz.
"Ich habe dich wirklich vermisst, Elena.", sagte sie dann wieder ernst.
"Ich dich auch."
"Aber ehrlich gesagt,", sagte sie. "Bist du wirklich nicht mehr die Elena die du einmal warst."
"Ich weiß. Menschen ändern sich."
Sie nickte zustimmend. "Eine Frage. Bist du hier mit der Intention, dass du zunimmst?"
"Ich wurde gegen meinen Willen hierher geschickt."
Sie schaute mich kurz geschockt an, sammelte sich dann aber wieder.
"Also willst du nicht zunehmen?"
"Hattest du nicht mit der Krankheit auseinander gesetzt?", stellte ich als Gegenfrage.
"Doch. Deswegen weiß ich ja wovon ich rede. Die Betroffene wird erst zunehmen, wenn sie selbst davon überzeugt ist, dass sie zu dünn und dass sie magersüchtig ist. Du musst also von dir aus abnehmen, nicht weil deine Mutter oder die Leute hier das sagen." Das hörte sich sehr plausibel an. Sehr logisch.
"Und?", fragte sie, als ich nicht antwortete.
"Ich weiß es nicht. Ich bin zwiegespalten." Das entsprach der Wahrheit.
Ich wollte Mama nicht dafür belohnen, dass sie mich hierher schickte um zuzunehmen. Und der Gedanke auf der Waage an Kilos anzulegen war unerträglich. Natürlich würde ich dann auch meinen Gunsten zu Federleicht1 verlieren. Ich würde dann nicht mehr zu ihnen gehören.
Anderseits konnte ich das was Lisa, Sabrina und Jonas sagten nachvollziehen und ich würde gerne ihretwegen, vor allen Dingen wegen Jonas, zunehmen.

"Elena?", rief jemand mir zu. Das war Schwester Fionas Stimme.
"Du musst gehen.", sagte ich zu Lisa. "Danke für dein Besuch."
Sie packte noch schnell etwas aus ihrer Tasche und drückte es mir in die Hand. Bevor Schwester Fiona das sehen konnte, legte ich es auf den Boden zwischen der Wiese, sodass man es nicht sehen konnte.
"Ja?", fragte ich.
"Heute musst du dich wiegen. Kommst du in zehn Minuten zu Raum 105, und da wirst du dann in Unterwäsche dich wiegen."
"Okay.", sagte ich. Dann war ich erleichtert, als sie ging. Denn wenn sie Lisa gesehen hätte, wäre mein nächster Besuch vielleicht gestrichen, und Jonas konnte nicht kommen. Als Schwester Fiona ging, kam Sebastian zu mir, dessen Anwesenheit ich gar vergessen hatte.
"Alles okay?", fragte er.
"Alle bestens." Obwohl ich mir dessen nicht sicher war.
Ich wollte raus hier, sowie Lisa in die Freiheit. Ich wollte Jonas sehen. Ich wollte wegen meinem Gewicht nicht mehr angesprochen werden.
Und erneut ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich in Erwägung zog zuzunehmen.

Federleicht Where stories live. Discover now