Kapitel 47

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Mama und ich tauschten kein Wort während der Autofahrt aus, erst recht nicht, als wir ankamen, da ich vom Anblick überwältigt war. Ich erwartete nämlich ein hässliches, abgerissenes Gebäude, stattdessen sah ich ein schön ausgestattetes Gebiet. Es waren mehrere Häuser, umrahmt von einer Wiese, aber trotzdem täuschte mich dieser schöne Anblick nicht. Ich wollte nicht nach hier. Ich war sauer auf Mama, die mich wegschickte und ich hatte Heidenangst.
Mein Herz raste wie verrückt, weil diese Situation so neu und beängstigend war. Ich konnte es nämlich immer noch nicht fassen, dass meine Eltern mich zu einer Anstalt brachten, und in dieser ich für einen längeren Zeitraum bleiben musste. Das Konzept dieser Einrichtung war, dass ich von meiner 'Essstörung' befreit werde. Und das hörte sich ganz und gar nicht gut an.

Als Mama mich kurz anschaute, versuchte ich wieder meine 'mir- ist- alles- egal- Pose einzunehmen. Aber in mir drinnen brach der totale Chaos aus. Die letzten Schritte Freiheit konnte ich noch genießen.
Die letzten Schritte, die mich vom Elend trennten, gingen schneller vorbei als gedacht und gewollt.
Mama öffnete die Tür und hielt sie mir offen. Und dann waren wir drinnen.
In einer Klink für Essgestörte.

"Willkommen.", sagte die Frau an der Theke. An ihrer übergroßen Brust hing ein Namensschild, Katharina Riegen.
"Hallo, Danke.", antwortete Mama und war über dankbar, dass uns jemand durch diesen Wirrwarr empfing.
"Dann musst du Elena sein.", sagte die Frau dann in meine Richtung während sie mir die Hand gab.
"Ja.", antwortete ich.
"Ich verstehe dass du schüchtern bist. Das sind alle, die hier ankommen. Aber du wirst dich hier sehr schnell wohlfühlen."
Jaja, Blabla, ich kann's gar nicht hören.
"Okay Frau Schmidt, ich muss sie jetzt leider wegschicken. Elena und ich kriegen das alleine hin."
Mama nickte eifrig und ich merkte, dass sie mit Tränen rang. "Ich bitte Sie, helfen Sie ihr."

Katharina Riegen schaute Mama liebenswürdig an und ihr Blick schien Mama zu entspannen. "Wir geben unser absolut bestes."
"Danke.", versuchte Mama zu sagen, aber ihre Stimme versagte. Dann wand Mama sich zu mir und schaute mich wirklich sehr traurig an. Meine Kehle war zugeschnürt, ich wollte ihr so viel sagen und sie nicht zum Weinen bringen. Aber es kam gar nichts raus. Mama legte dann die Arme um mich und als sich unserer Köper berührten spürte ich sie tief schluchzen und zittern.
"Ich werde dich vermissen.", sagte sie. "Komm bitte schnell zurück."
"Du kannst mich auch wieder mitnehmen.", versuchte ich flehend und ich merkte, dass meine Unterlippe zitterte. Mama löste sich von der Umarmung und schaute mich ernst an. "Nein. Du musst gesund werden." Sie schaute noch einmal kurz zu Katharina Riegen und dann ging sie.
Ich schaute ihr zu.Ich schaute zu wie sie gekrümmt den Raum verließ, sich die Tränen schon abwusch und in die Freiheit ging. Während ich hier stand, in einem Käfig mit einer Frau die übergroße Brüste hatte.
"Alles okay?", fragte sie mich dann von der Seite.
"Ja mir geht es bestens. Ich wurde soeben hier abgesetzt, getrennt von meinem Freund, meinen Freunden, meiner Schwester, meiner Mutter!"
Ich hörte nicht daraufhin, was sie darauf erwiderte, da ich selbst merkte, dass das Argument nicht plausible war. Ich hatte keinen Freund mehr. Caro würde ich nicht wirklich vermissen.
Ich hatte keine Freunde. Und an Mama wollte ich in dem Moment nicht denken. Ich war hier und jetzt, allein gelassen ohne einen Ausweg, eingesperrt in diesem Käfig.
"Hast du gehört Elena?", wiederholte Katharina Riegen sich.
"Hmm?", fragte ich.
"Sofort kommt eine Schwester um sich um dich zu kümmern."

Ich setzte mich kurz auf diese Couch, aber sobald ich mich hingesetzt habe, kam schon eine junge Frau zu mir.
Sie sah ehrlich gesagt super sympathisch aus. Sie hatte ein strahlendes Lächeln und gepflegte Zähne. Sie hatte langes, dichtes braunes Haar, auf dieses ist fast eifersüchtig wurde. Nur sie war etwas zu dick. Vom Körperbau her sowie Caro, eine Wespenfigur. Wenn ich jedoch ihre Figur hätte, würde abnehmen. Ich wusste nicht was genau mich an ihrem Aussehen überwältigt. Ihre schön gebräunte Haut? Dieses schöne Lächeln?
Aber gleich kam ich darauf. Sie sah total gesund aus. Ein schöner, gesunder Körper.
Diese Frau nimmt alle Vitamine zu sich und ist sich ihrer Ernährung bewusst.
Und das sah ehrlich gesagt so schön aus.
"Hallo Elena!", sagte sie mit einer schönen melodischen Stimme.
"Hallo..."
"Ich bin Sabrina. Sabrina Bauer."
Wir gaben uns die Hand. "Es ist schön dich kennenzulernen."
"Danke.", antwortete ich.
"Dann werde ich mit dir auf eine kurze Tour gehen."
Sie hielt mich an meiner Hand fest, was ich im ersten Moment etwas komisch fand. Jedoch bemerkte ich gleich daraufhin, wie zärtlich diese Geste war. Diese Geste bot mir etwas Halt in der äußerst schrecklich Situation und ich merkte, dass ich mich nach einer Freundin sehnte.
Falsch.
Total falsch.
Diese Frau, Sabrina soundso, wollte mich fett machen. Vielleicht noch gesetzter als sie. Also war sie auf gar keinen Fall eine Freundin für mich.
Doch als sie auf ihre zärtliche Art und weise wieder mit mir sprach, fiel es mir schwer sie zu hassen.
Entweder sie konnte gut schauspielern oder sie kümmerte sich wirklich um mich und meinem Zustand.
Es waren vier Gebäude die sie mir zeigte, inklusive Garten. Ein paar einzelne Räume gefielen mir absolut gar nicht, wie zum Beispiel die Küche. Oder diese gruselige Krankenstation (okay so gruselig war sie gar nicht, ich hatte nur Befürchtungen irgendwann mal dorthin zu müssen. Da waren Schläuche, mit denen Mama mir einmal gedroht hat.)
"Dann gehen wir jetzt noch auf dein Zimmer, Schätzchen."
Und das war der Teil vor dem ich auch am meisten Schiss hatte. Wer würden meine Zimmergenossen sein? Wie sieht das Zimmer aus? Zur zweiten Frage: das Zimmer war schlicht, sah so aus wie ein Hotel Zimmer.
"Du wirst dich hier ganz schnell zu Hause fühlen. Auch wenn es nicht das Bett von zu Hause ist."
Es war schön, ja. Aber es war nicht mein Zimmer. Es hatte keine Privatsphäre.
Aus dem Bad kam ein Mädchen. Sie hatte mittellanges, dünnes blondes Haar und so dünn wie ich. Ihre Augen glänzten als sie Sabrina sah.
"Hallo, Sabrina!", rief sie gut gelaunt.
"Hallo, Sophie. Wie geht's dir heute?"
"Ach ja.", sagte sie. "Ich... kann ich später mit dir reden?"
"Ja natürlich, Schätzchen. Das kriegen wir geregelt." Sie zwinkerte ihr zu. Dann stellte Sabrina mich vor.
"Sophie, das ist deine neue Zimmergenossin, Elena. Sie ist super nett und freundlich, ich bin mir sicher du wirst sie mögen. Und Elena? Das ist Sophie. Sie ist ein alter Hase und wird dir bestimmt sagen, wo alles ist."

"Hallo.", sagten wir uns schüchtern.
"Gut, dann lass ich euch beide mal alleine und ich komme gleich wieder zu dir, Elena, okay?"
Ich nickte obwohl ich wirklich nicht wollte, dass sie ging. Als die Tür ins Schloss fiel blieb es erstmal still. Ich schaute mich in meinem neuen Zimmer um, und setzte mich irgendwann auf meinem Bett.
"ProAna?", fragte Sophie mich plötzlich.
"Ja. ProAna."
"Sowie ich."
"Und du schaffst es hier... abzunehmen?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich bin schon sehr lange hier. Aber habe noch nicht richtig zugenommen."
"Werde ich... hier wirklich zunehmen müssen? Ich hab mir den Flyer durchgelesen."
"Ich bin ehrlich zu dir. Du musst, ja. Wenn du hier raus willst, dann ist das die einzige Wahl. Wenn du hier bleiben willst, tja dann wird es aber schwer."
"Und du willst hier bleiben?"
"Ja. Ich hasse es zu Hause."
Sie erzählte nicht mehr und auch nicht den Grund. Also ließ ich es dabei beruhen.
"Du kriegst gleich deinen Ernährungsplan. Und nach dem Mittagessen müssen wir zur Selbsthilfegruppe."
"Okay.", sagte ich.

"Nicht wundern. Die meisten hier sind Anas. Aber es gibt auch Adipösas."
"Und das sind?"
"Extrem übergewichtige, die abnehmen müssen. Die haben auch eine Essstörung."
Oh also wie ich einmal war. Ich fragte mich wie es so wäre hier zu sein um abzunehmen. Deutlich unangenehmer als andersherum. Aber auch damals hat Mama mich hier nicht eingetragen, ihr war es nicht so wichtig, dass ich mal Extrems fett war. Jetzt wo ich "untergewichtig" war, werde ich eingetragen. Paradox.

"Und Sabrina leitet die Selbsthilfegruppe."

Und da freute ich mich irgendwie.

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