Kapitel 38

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Ich war die nächste und ich fühlte mich immer unbehaglicher. Die alte Dame vor mir nahm sich jedoch sehr viel Zeit und ließ sich von den Apothekern genauestens beraten, was das Warten nur noch unerträglicher machte. Leider stand an der Kasse die gleiche Frau, die mir auch beim letzten Mal die Abführmittel gegeben hat. Aber ich musste Prioritäten setzen und ans Abnehmen denken.
Meine Lage hat sich verschärft- Mama kontrollierte öfter ob ich aß. Jonas drückte mir auch immer etwas in die Hand und gleich danach folgte ein Kuss, was mich natürlich außer Gefecht brachte. Also brauchte ich diese verdammten Abführmittel, auch wenn die Tante an der Theke mich vielleicht schief angucken würde.
"Ja bitte?", fragte sie mich, nach dem die alte Frau im Schneckentempo gegangen war.
"Ähm ich brauche eine Packung Abführmittel." Sie schaute mich kritisch an.
"Die hatten Sie doch auch letztens erst gekauft."
"Ich habe eine... schlimme Verstopfung."
Genau jetzt musste es natürlich ruhig werden in dem Laden. Ist ja auch verständlich- die Leute hören immer zu wenn es um peinliche Angelegenheiten oder Streitereien geht. Genau wie jetzt.
Die Apothekerin musterte mich kritisch, gab mir dennoch die Packung. Ist ja auch klar- es muss verkauft werden! Ich habe mal ein Artikel darüber gelesen, dass die Apotheken dieser Generation einen hohen Druck aufgrund des Online Bestellens haben. Also her mit den Mitteln...

*

Mein Leben ist scheiße. Wenn ich das mal so offen denken darf. Obwohl? Selbst jetzt hatte ich Angst, dass Mama das vielleicht mitbekommt. Sie schränkte mich in meinem Leben ein. Zum Beispiel kam sie heute auf die einleuchtende Idee die Tür meines Zimmer zu entfernen, um zu sehen wann ich esse, was ich mache und mich einfach zu kontrollieren. Grund dafür?- sie hat mich dabei erwischt, wie ich das gegessene Essen ausgekotzt habe und sie ist ausgerastet. Ich ärgerte mich auch über mich selbst, denn ich dachte sie hätte mein Zimmer verlassen nach dem ich Fisch und Salat aß, und ich bin schnellst möglich zum Bad um's Auszukotzen, damit sich ja nichts ansetzte. Doch sie hat es gehört. Und sie bekam einen Wutanfall. Aber andererseits musste ich das Essen schnellstmöglich wieder loswerden, da es gar nicht verdaut werden darf. Sonst würde ich nämlich zunehmen.
Jedenfalls verfolgte sie jetzt striktere Maßnahmen.
Keine Tür.
Essen in geregelten Zeiten.
Kontrolle 24/7 (Außer natürlich wenn ich raus gehe, da folgt sie mir nicht wie ein Wachhund).
Deswegen dachte ich auch, dass Mama irgendwann auch meine Gedanken liest. Ich aß schweigend mein Brot, was sie mir zu Abend gemacht hat. Ich hatte nämlich einen Masterplan, wie dieses Brot sich nicht ansetzte. Abführmittel. Und ich würde kotzen, wenn sie pennen geht. Sowie auch Sport machen. Man hörte die Tür von unten aufgehen, Papa war da.
Was mich aber wunderte, war, dass Mama tief seufzte und mich gleich danach so anschaute, als hätte sie es nicht getan.
"Ich komme sofort wieder.", sagte sie und ging raus.
Ich biss in das Brot und spukte es wieder aus.
Mama würde jeden Moment wieder hochkommen, also wenn ich das ganze Brot wegschmeißen würde, würde sie es merken. Deswegen biss ich rein und spukte es wieder aus, damit es realistisch erschien. Und so war es auch.
Sie kam gleich wieder rein und ich habe an ein paar Bissen gespart.
Sie war still, wartete bis ich es aufgegessen habe und verließ dann mein Zimmer.
"Wehe du gehst kotzen, ich höre das." Ich hatte ein elendes Gefühl, denn ich spürte ganz genau wie sich der Speck an mich ansetzte.
Zum Glück wurde ich aber von meinem Handy abgelenkt, Jonas, rief nämlich an.
"Hey Babe.", sagte er.
"Hi.", antwortete ich und mit einem Mal nahm ich zurück was ich vorhin sagte- mein Leben ist nicht scheiße.
"Was machst du so?", fragte er.
"Liege in meinem Bett.", antwortete ich. "Wollte gerade für die Schule lernen."
Jonas wusste Bescheid von meinen schlechten Noten, ich hatte es ihm erzählt.
"Wenn du willst, kannst du gerne zu mir kommen, dann lernen wir zusammen."

Und wie ich das wollte.
So schnell es ging packte ich meine Schulsachen in meinen Rucksack, nahm mein Handy und Schlüssel und ging raus.
Vor der Haustüre, wollte ich bestmöglich meinen Eltern aus dem Weg gehen, aber dann blieb ich doch stehen, denn ich wurde neugierig. Sie unterhielten sich flüsternd. Für eine kurze Zeit bemerkten sie mich nicht, als sie meine Anwesenheit an der Tür aber bemerkten verstummten beide und sie unterhielten sich dann plötzlich in normaler Lautstärke.
"Also soll ich morgen mitkommen?", fragte Mama und versuchte Normalität in die Situation zu bringen. Sie verheimlichten irgendwas. Und ich merkte auch die angespannte Situation- es musste irgendwas wichtiges und ernstes gewesen sein.
"Ich gehe zu Jonas.", sagte ich. "Er hilft mir beim Lernen."
"Viele Grüße.", sagte Papa. "Sag ihm, dass ich etwas Hilfe mit meinem Auto brauche."
"Ja mach ich."
Und dann verließ ich das Haus.
Nicht, dass sie sich meinetwegen unterhalten haben? Nicht, dass Mama auf schwierigere Konsequenzen und Maßnahmen zugreifen wollte. Ich verdrängte den Gedanken sobald Jonas mich mit einem Kuss begrüßte.
"Was darf's denn sein? Mathe? Englisch?"
"Mathe, genau."
Wir lernten den ganzen Abend, unterhielten uns und küssten uns. Irgendwann verließ er das Zimmer und kam mit Keksen wieder. Ich unterdrücke einen Seufzer, dachte an unser Gespräch und aß drei Kekse.
Warum hinderte mich jeder daran abzunehmen und fütterte mich wie ein wildes Tier im Zoo? Warum hatten alle das Bedürfnis mich essen zu sehen?

  
*

Ich hatte ein Wecker um zwei Uhr nachts. Auch wenn ich überhaupt keine Lust hatte und am liebsten weiter schlafen würde, rappelte ich mich auf und ging leise ins Bad. In Zeitlupe drehte ich den Schlüssel zu und ging auf Zehenspitzen zum Klo. Das Erbrechen war ekelhaft, aber trotzdem in irgendeiner Weise befriedigend. Dann putzte ich meine Zähne gründlich und ging wieder in mein Zimmer. Mir war kalt, ich war todmüde. Trotzdem machte ich Sit-ups, Squads, Liegestütze und so weiter. Ich fragte mich was Mama dachte. Glaubte sie allen Ernstes, dass ich aufhören würde mit dem Abnehmen, weil sie mich dazu zwingt? Ganz im Gegenteil, jetzt wollte ich es umso mehr. Ich hielt dann inne, weil ich Stimmen hörte. Von meinem Zimmer hörte ich es nur gedämpft, aber es wurde geschrien.
Es waren meine Eltern, die sich lauthals stritten. Die Geräusche kamen aber nicht vom Schlafzimmer neben an, sondern vom Wohnzimmer. Sollte ich kurz runter und lauschen? Ja. Ich wollte wissen, was Mama mit mir vorhatte, was zu solch einem Streit führte. Kurz bevor ich die Türe von meinem Zimmer öffnen konnte, hörte ich aber wie eine Vase gegen die Wand geworfen wurde und zerbrach. Zwar hatten wir wirklich dicke Wände und die Tür vom Wohnzimmer war geschlossen, dennoch konnte ich es ganz deutlich hören. Plötzlich wurde mir mulmig und ich bekam große Angst. Ich fragte mich nur, was da abging. Es ist normal, dass Paare sich auch mal streiten, aber dieser Streit, war der schlimmste, den ich je mitbekommen habe.
Leise ging ich mit pochendem Herzen die Treppen runter und auch wenn die Tür des Wohnzimmers geschlossen war, hörte ich alles deutlicher, je näher ich kam.
"Wie kannst du es wagen?!", schrie Mama lauthals. Okay. Jetzt glaubte ich nicht mehr, dass es was mit mir zu tun hatte.
"Ich habe keine Lust mehr! Ich komme nach Hause, du hast schlechte Laune, unsere Töchter streiten sich nur, und du redest von nichts anderem als Elenas Diät!"
"Wir sind eine Familie! Doch sollte das auch alles angehen! Und nicht deine Assistentin auf der Arbeit zu vögeln! Deswegen hattest du deine 'pseudo- Überstunden'! Nur um mich zu betrügen!"
Nach dem sie schrie, sagte ihre Stimme ab und sie weinte. Und mein Herz blieb mir vor Schock stehen. Die ganzen Überstunden die Papa hatte... sie waren alle nur Deckung um Zeit mit einer anderen Frau zu verbringen.
Seit dem er befördert wurde, musste das angefangen haben. Seit er sein eigenes Büro, mit einer Assistentin hatte. Ich eilte schnell hoch, mehr wollte ich nicht mehr hören. Gerade verkniff ich mir die Tränen, da erschrak ich erneut, weil wieder etwas kaputt gemacht wurde im Wohnzimmer und ich fühlte mich einfach nur elend.
"Was ist los?" Caro stand am Fuße der Treppe und schaute mich an. Sie war einerseits verschlafen, andererseits geschockt.
"Warum streiten sich Mama und Papa?" Sollte ich es ihr sagen? Sie war meine Schwester und hatte genau so viel Recht wie ich dazu.
"Papa hat ein Seitensprung gemacht."
Caro fiel buchstäblich die Kinnlade runter.
"Was?!"
Ich ging an ihr vorbei in mein Zimmer.
"Elena red mit mir.", sagte sie und kam in mein Zimmer.
Ich legte mich auf mein Bett.
"Er vögelt seine Assistentin! Was willst du noch wissen?!"
Caro schwieg. Irgendwann kam sie rein und schloss die Tür hinter sich.
"Das heißt unsere Eltern lassen sich trennen?"
"Wahrscheinlich."
"Kann ich zu dir?", fragte Caro.
Für einen Moment war ich perplex. Was hatte sie gerade gefragt?
Dann merkte ich aber selber, dass ich selbst auch emotionale Zuwendung brauchte.
"Ja.", sagte ich und merkte dann wie heiße Tränen über meine Wangen glitten.
Caro umschloss ihre Arme um mich und kraulte mein Bein. "Alles wird gut.", sagte sie, dann versagte ihre Stimme und auch sie weinte.

Federleicht Where stories live. Discover now