Kapitel 62

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Wir saßen beide auf den Plätzen der Bushaltestelle. Die Glaswände waren voller Graffiti besprüht. Es gab auch Herzen in denen irgendwelche Buchstaben und dazwischen ein Plus stand.

"Wofür denkst du steht K + T?", fragte Amanda mich. Ich folgte ihrem Blick.

"Keine Ahnung. Kim und Tom? Könnte aber auch Kylie und Travis sein."

Amanda lächelte mich an. "Hättest du gerne Kylie's Hintern?"

"Nein. Du?"

"Nö. Der ist so Fake wie der Applaus nach einer Schulpräsentation." Ich musste lachen. Dann war es wieder still, mein Lachen erstarb auch.

"Amanda wie schaffst du das?" Sie schaute mich fragend an. "Wie schaffst du das, so gelassen zu wirken, als wärst du schon hundertmal ausgebrochen."

"Hundertmal ist übertrieben." Ich musste stocken.

"Jetzt im ernst? Du... du bist schon mal ausgebrochen?"

"Noch nie bei Tageslicht." Ich konnte nicht anders als sie anzustarren.

"Was?", fragte sie unbekümmert, als wäre es die normalste Sache aus der Klinik rauszukommen. "Du musst dir jetzt sogar weniger sorgen machen, weil auf mich Verlass ist."

"Okay. Das ist aber trotzdem irgendwie nicht tröstlich. Ich mache mir immer noch Sorgen und habe Angst."

"Hast du Sachen zum wechseln dabei? Nicht dass du dir in die Hose machst."
Ich schaute an meine Kleidung herab. Sie war total verdreckt wegen dem erfreulichen Kontakt mit dem Boden. Und es erschienen auch schon ein paar Blutergüsse.
"Wo gehst du denn jetzt hin?", fragte ich sie. "Du kannst es mir sagen, ich behalte es für mich."
"Das ist nicht der Rede wert. Es gibt andere Dinge über die wir uns unterhalten müssen."
"... Echt? Worüber denn?"

"Das war einer der Gründe warum ich dir das mit der Müllabfuhr erzählt habe. Ich wollte dich natürlich von der Sonde retten. Vorerst. Und ich wollte auch raus, um... ein paar Sachen zu erledigen. Aber, vor allem wollte ich mit dir reden."

Sie wand den Blick von mir ab und schaute auf ihre Schuhe und ich fragte mich, worüber sie mit mir reden konnte, was wir nicht hätten in der Klinik besprechen können.

"Ich wünschte ich wäre ganz dünn...", sagte sie. „Federleicht."

Sobald sie letzteres gesagt hat, schaute sie mich an. Federleicht.
Sie wollte federleicht sein. Dann machte es bei mir Klick.

"Federleicht1?", fragte ich vorsichtig.

"Ja. Ich habe es erstmal selbst nicht geglaubt. Als ich dich das erste mal gesehen habe, rothaarig, blaue Augen, Sommersprossen. Aber das konnte auch nur ein Zufall sein. Und dann hast du Federleicht1 und den anderen von einem Mädchen erzählt, die dich schrecklich behandelt und du wegen ihr zunehmen möchtest, um rauszukommen'. Federleicht1 gab dir den Tipp du sollst ihr das sagen. Als es dann an meiner Tür geklopft hat, du da standest und genau das sagtest, was ich dir vorher gesagt habe, wusste ich, dass du Anele123 warst."

Ich war vollkommen sprachlos.

Amanda und Federleicht1 waren ein und dieselbe Person?!
Mindblow.
Ich konnte es nicht fassen.

"Jetzt verstehe ich den Namen Anele überhaupt. Es ist dein Name rückwärts."

Ich schaute Amanda an und kam immer noch nicht darauf klar, was sie mir soeben sagte.

"Elena jetzt sag doch etwas."

"... Warum hast du mir das nicht früher gesagt?"

"Ich wollte glaub mir. Aber ich wusste nicht wie. Und es war immer wieder spannend von dir zu lesen."

"Das ist... krank?!"

"Ich weiß. Es tut mir auch leid, dass du es erst jetzt erfährst."

"Ja sollte es auch."

Dann kam der Bus von der Ecke. "Okay, komm, wir müssen los."

*

Im Bus war es still. Ich verarbeitete immer noch das, was sie mir sagte und versuchte mich an jedes Gespräch zu erinnern. Amanda schaute solange stumm aus dem Fenster und schien in ihren Gedanken versunken zu sein.

"Von wo hast du eigentlich das Geld mit dem du unser Ticket bezahlt hast?", fragte ich sie.

"Hmm?", machte sie nur.

"Amanda hier bin ich." Ich schnipste vor ihrem Gesicht, damit sie mich beachtet. "Von wo hast du das Geld?"

"Frag nicht. Manchmal ist es besser weniger zu wissen."

"... Hast du es geklaut?"

"Nein, nur geliehen."

Ich seufzte. Wir sind nicht nur abgehauen, nein wir haben auch noch Geld geklaut.
Schlimmer konnte es doch echt nicht werden.

"Chill. Ich hab das schon öfter gemacht und es ist noch nie aufgefallen."

"Es ist aber auch noch nie aufgefallen, dass du raus und rein gingst."

Sie zuckte mit den Schultern. "Hast recht." Dann schaute sie auf die Uhr. "Noch keiner weiß, dass wir weg sind. Erst in fast zwei Stunden könnten die Schwestern und die Mädels bemerken, dass wir beide fehlen. Zufällig, an dem Tag wo die Sonde ansteht."

"Tja.", sagte ich nur obwohl ich im Moment fast in Panik ausbrach.
Schon wieder hinterfragte ich, ob das eine gute Idee war abzuhauen.
Ja, war es.
Dabei blieb es auch, verdammt nochmal.

Dann waren wir beide still, bis Amanda irgendwann wieder anfing zu reden.

"Ich gehe zum Friedhof."

"Bitte?"

Jetzt schaute sie mich an. "Ich bin ausgebrochen um meine Mutter im Friedhof zu sehen. Ich möchte die Blumen immer erneuern."

Ich schluckte schwer. Damit hatte ich nicht gerechnet.

"Das tut mir leid zuhören.", sagte ich.

"Ja ich tue mir auch leid."

"... Was ist mit deinem Vater?"

"Der hat meine Mutter geschwängert und sich wie ein Feigling nie wieder blicken lassen."

Ich schwieg, weil ich nicht wusste was man in solch einer Situation sagte. Und weil ich vollkommen geschockt war.
Als Papa Mama betrog, dachte ich, es wäre die Schlimmste Sache die einer Familie passieren könnte. Ich dachte ich habe eine der schlimmsten Familien der Welt und alle anderen seien perfekt. Aber es gab weitaus schlimmere Situationen, das war mir jetzt bewusst.

"Jetzt bemitleide mich nicht. Ich bin immer noch die gleiche Amanda wie vorher."

"Wenn deine Eltern... du weißt schon... nicht da sind. Wer entscheidet, dass du in die Klinik kommst?"

"Meine Pflegeeltern, die mich eigentlich nur los werden wollen. Perfekt, dass ich auch noch magersüchtig bin, dann verdienen die Geld dafür, dass sie mich aufgenommen haben, obwohl sie kein Strom, Wasser, Heizung, Essen für mich zählen müssen."

Ich war erneut sprachlos. Das alles hatte ich nicht gedacht.
Sie war nur dieses selbstbewusste Mädchen, welches immer und überall ihre Meinung sagt und Sabrina hasste.
Und jetzt zeigte sie sich mir von ihrer verletzlichen und menschlichen Seite, wo ich nicht dachte, dass sie die hatte.

"Entschuldige ich will dich damit nicht belasten.", sagte sie dann unvermittelt.

"Nein Quatsch das tust du nicht. Du kannst ruhig darüber reden."

"Können wir bitte das Thema wechseln? Ich will hier nicht anfangen zu weinen."
„Klar.", sagte ich dann und wand den Blick ab.

Federleicht Where stories live. Discover now