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LILLIAN

Es ist spät an einem Freitagabend. Hoch über den Dächern der Stadt schaue ich aus meinem Büro hinab auf die vielen Lichter. Die Autos sehen von hier oben aus wie winzige Ameisen. In der Ferne erkenne ich die Freiheitsstatue, dahinter das weite Meer. Ich sollte um diese Uhrzeit nicht mehr hier sein. Seit einem grausigen Mord unweit der Brooklyn Bridge, hat der Bürgermeister eine Ausgangssperre ab zehn Uhr abends verhängt. So soll vermieden werden, dass jemand unschuldiges ihnen in ihrer Blut-Fehde zum Opfer fällt. Wer die sind weiß ich nicht genau. Ich kenne weder das Opfer noch weiß ich wer dafür verantwortlich ist. Nur eines kursiert seit Tagen durch die Medien - das Opfer war der Sohn eines einflussreichen Mannes und die schwören nun Blutrache. Im Fokus stehen die Vallians, dessen Sohn tot ist, und die Benellis, ein Clan aus Sizilien. Keinesfalls gute Männer. Sie herrschen über Little Italy und andere Bezirke der Stadt. Trotzdem hat niemand verdient einen solch grausigen Tod zu erleben.
Es ist kurz nach neun und ich bin spät dran. Wenn ich mich nicht beeile, schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig nachhause. Schluckend schlage ich meinen Laptop zu und erhebe mich. Ich werde alles für morgen liegen lassen. Nervös werfe ich mir meinen Mantel über und schnappe mir meine Tasche, um zu verschwinden. Mein Weg nachhause dauert knappe vierzig Minuten. Wenn ich meine U-Bahn schaffe, habe ich zehn Minuten, um in mein Wohnhaus zu gelangen. Es wird knapp.

In den Fluren sind nur noch wenige Mitarbeiter zu sehen. Ich quetsche mich in einen noch wartenden Aufzug, bevor die Türen sich schließen. Er rauscht mit erheblicher Geschwindigkeit sechzig Stockwerke in die Tiefe bis in die große mit Marmor geschmückte Eingangshalle. Die Zeitung, für die ich arbeite, ist eine der größten der Stadt und sehr renommiert. Ich liebe meinen Job mehr als alles andere. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso ich keinen Mann an meiner Seite habe. Niemanden gefällt es, wenn seine Freundin von Frühs bis abends im Büro sitzt. Ich habe mich schon lange damit abgefunden und nötig habe ich es auch nicht.

Die Luft, die mir Draußen ins Gesicht peitscht, ist eisig kalt und trocken. Ich ziehe mir meine Jacke vor der Brust zusammen und beeile mich zu U-Bahn-Station zu kommen. Die meisten Läden, die ich passiere, schließen bereits. Die hohen Wolkenkratzer fast alle dunkel. Nur in wenigen Büros leuchtet noch Licht. Die Stadt, die nie schläft, fährt herunter. Seit der Verkündung der Ausgangssperre sind zwei Wochen vergangen. Zwei lange Wochen, in denen ich mich sorgte, ob ich rechtzeitig zuhause ankomme, weil sich auf meinem Schreibtisch so viele Unterlagen stapeln. Zwei Wochen, in denen ich Angst hatte, den Weg von der U-Bahn nachhause zu gehen, weil ich die einzige war. Ich hasse es jeden Tag aufs Neue. Doch jede Nacht werden die Opfer der Blutrache mehr. Und die Behörden können rein gar nichts ausrichten, denn sie haben keine Ahnung, wann oder wie es passiert. Selbst wenn sie jemanden festnehmen würden, ich bin mir ziemlich sicher niemand würde auch nur ein winziges Detail verraten. Diese Personen sind Kriminelle die einen Schwur geleistet haben. Die Tattoos auf ihrer Haut zeigen wem sie angehören und treu ergeben sind. Eher würden sie sterben. So läuft es dort. Jäger und Gejagte. Fressen oder gefressen werden.

Die silberne U-Bahn fährt genau vor meiner Nase los. Fluchend komme ich am Bahnsteig zum Stehen und raufe mir die Haare. Das darf doch nicht wahr sein! Nervös schaue ich hinab auf das Display meines Telefons. Ich könnte mir der nächsten Nummer fahren, doch dann würde ich länger laufen müssen. Aber vielleicht ist es meine einzige Möglichkeit nicht im Büro schlafen zu müssen. Ich muss es versuchen. Während ich auf die Bahn warte, spiele ich mit dem Hausschlüssel in meiner Jackentasche. Immer und immer wieder fahren meine Finger über den kleinen Holzanhänger, der ein Kleeblatt darstellen soll. Meine Adoptivmom hat es mir vor einer Ewigkeit zum Geburtstag geschenkt, seitdem trage ich es mit mir herum. Es soll mir Glück bringen. Immer wenn ich nervös bin, spiele ich daran herum. Es ist eine blöde Angewohnheit.
Ich bin umso froh als ich endlich in der U-Bahn sitze und meine Tasche auf dem Schoß festhalte. Es ist weniger voll als heute Morgen und viel ruhiger. Zum Glück vergeht die Fahrt schnell und ich steige achthundert Meter entfernt von meiner Wohnung aus.

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now