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LILLIAN

»Schön, dass ihr gekommen seid«, begrüßt uns die Frau, die sich als Erin vorgestellt hat. Sie steht neben dem unfreundlich wirkendem Muskelprotz mit kurzem Bart und strahlt mich wie ein Honigkuchenpferd an. Die beiden sollen ein Paar sein? Sie sind wie Tag und Nacht, vielleicht trügt der erste Anschein aber auch nur. Auch die anderen beiden sind sehr unterschiedlich. Mila, dessen langen Haare glänzend ihr freundliches, aber zurückhaltendes Gesicht einrahmen, und Fergus, der mir bisher nur seinen Namen verraten, mir aber weder die Hand noch eine Umarmung gegeben hat. Nicht das er letzteres tun müsste, aber Erin hat mich so begrüßt. Erins eisblaue Augen und dunklen Haare geben einen schönen Kontrast und lassen sie aus der Masse herausstechen. Milas dunkle, im Licht fast schon grünliche passen zu Fergus seinen, in denen ein unsagbarer Ausdruck festhängt. Er mustert mich seit guten zehn Minuten aus der Ferne, steht da als hätte ihn kürzlich ein Truck überrollt. Hat er etwas gegen mich? Bin ich nicht erwünscht?
Santinos Hand an meinem Rücken gibt mir halt, den ich so sehr brauche. Seine Worte haben mir einen Schrecken eingejagt und noch immer weiß ich nicht, was sie bedeuten. Es ist, als wollte er sich für etwas entschuldigen. Aber für was?
»Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?«, schlägt Mila vor und berührt den Arm des braunhaarigen, als sie sich an seine Seite legt. Er nickt abwesend und gibt den Weg vor. Es geht drei Stufen hinunter ins besagte Wohnzimmer und wir verteilen uns auf den drei Sofas, die in einer u-förmigen Gruppierung vor dem stattlichen lodernden Kamin stehen. Mit dem Rücken zu der großen Fensterfront sitzend, schaue ich mich neugierig um. Auf dem Kaminsims stehen mehrere Fotorahmen mit Bildern, die ich aus der Entfernung nicht gut erkennen kann. Selbstgemalte Bilder sind ihnen untergemischt, die ausschauen wie die von Kleinkindern. Ob einer von ihnen ein Baby hat?

»Also«, räuspert Ewan sich. Sein rauer schottischer Akzent passt zu seinem Auftreten. Mir ist eine gewisse Ähnlichkeit zu Fergus aufgefallen. Sie teilen sich einige gleiche Gesichtszüge, aber sind auch deutlich verschieden. Ob sie Brüder sind?
»Möchtet ihr etwas trinken? Die Fahrt war sicher lang«, bietet Mila uns an und wir schütteln synchron den Kopf. Hinter ihnen sehe ich wie Kyle und zwei andere unsere Koffer in den ersten Stock tragen.
»Sehr freundlich, aber wir hatten erst vor kurzem einen Kaffee«, lehnt Santino für uns ab. Ewan klatscht in die Hand und beugt sich nach vorn, legt die Arme auf den Knien ab und schaut durch die Reihen. »Dann können wir ja gleich zum wichtigen Thema des Tages kommen«, schlägt er vor und Erin seufzt an seiner Seite auf. »Ewan...«, murmelt sie und er ignoriert es gekonnt. Sein Blick wandert zu dem anderen, der nur auf den flauschigen Teppich zu unseren Füßen starrt. Irgendwas hat er.
»Nun ja, Kyle hat uns erzählt, dass du nach deiner Familie suchst. Also nach deinen Eltern«, beginnt der Schotte gleich auf den Punkt kommend und ich nicke mit rasendem Puls. Kennen sie meine Eltern etwa? Meine Augen huschen zu Santino, der mir in diesem Moment seine Hand aufs Knie legt. Sein Daumen streift meine Jeans sanft und in mir kommt ein beklemmtes Gefühl auf. Ich kann nichts dagegen machen, aber es fühlt sich merkwürdig an. Nicht richtig. Verdammt falsch. Dabei habe ich so lange auf diesen Moment gewartet...
Ich grabe meine zitternden Hände in meine Jacke, schaue die vier auf dem Sofa gegenüber abwechselnd an, und kann nichts auf ihren Gesichtern ablesen. Ich kenne diese Menschen nicht. Sie sind mir alle fremd, und trotzdem fühlt es sich komisch vertraut mit ihnen in diesem Raum an. Das Feuer knistert leise im Hintergrund, und Ewan fährt fort. »Vor vierundzwanzig Jahren kamen mein Onkel und meine Tante bei einem Autounfall um. Meine Tante war schwanger und wir glaubten bis vor ein paar Tagen, dass das Baby tot war. Es gibt sogar einen Grabstein auf dem Friedhof«, beginnt er und die Falten auf meiner Stirn werden so tief, dass es langsam schmerzt. »Was willst du damit sagen?«, frage ich viel zu schrill und schlucke den Kloß in meinem Hals nur gerade so hinunter. In meinem Kopf rattert und rattert es, die Schräubchen drehen sich und mein Magen schlägt Purzelbäume, doch nicht vor Freude. Mir wird kalt, so eisig kalt, dass ich mich schüttle. Angstschweiß überzieht meine Stirn und ich fühle mich taub im inneren. Ohnmächtig, machtlos, stumpf. Ewan muss nicht weitersprechen, denn es macht alles Sinn. Meine Augen fixieren Fergus, der bis jetzt außer seinen Namen nichts zu mir gesagt hat. Er kann mich nicht ansehen, weil da etwas ist, dass uns verbindet. Es ist eine Vermutung, die sich bestätigt als Mila ihre Hand tröstend auf seinen Arm legt und ihm etwas zuflüstert. Mir wird kotzübel.
Kopfschüttelnd erhebe ich mich und entwische Santinos Griff, bevor er mich festhalten kann. »Lillian!«, ruft er mir hinterher als ich aus dem Wohnzimmer stürme, so schnell es mein Körper zulässt.

Blind stolpere ich hinaus in die Kälte, die Stufen hinab und weit vom Haus weg. Ich husche an den Garagen vorbei, bis ich in einen großen Park gelange und mich atemlos an einem der großen Bäume abstützte.
Das erste Schluchzen überkommt mich und mein Körper wird von vielen weiteren erschüttert. Ich stoße einen Schrei aus, kralle mich in die kalte Rinde des uralten Nadelbaumes und kneife meine Augen zusammen. Mein Atem steigt rauchend in die kalte Winterluft.
Die Wahrheit bricht über mich hinein und ich kann mich nicht mehr halten. Bitterlich weinend stehe ich unter der Tanne, meine Beine geben fast nach. All die Jahre habe ich nach der Wahrheit gesucht. Habe nach meinen Eltern gesucht. Ich mahlte mir aus, wie es ist das erste Mal in die Augen meiner Mutter zu schauen, zu sehen, ob ich ihr Abbild, oder doch das meines Vaters bin. Ihre Stimme zu hören, von ihrem Duft benebelt zu werden. Ich wollte wissen, wie es ist, von ihr in den Arm genommen zu werden. Mein ganzes Leben dachte ich, sie haben mich verlassen und im Stich gelassen, doch in Wahrheit, waren sie Tod. Sie ist gestorben in diesem Auto, noch bevor sie mich geboren hatte. Bevor sie die Chance hatte, mir einen Namen zu geben oder mich zu halten. Alles bricht über mich hinein wie eine Lawine. Wie ein reisender Strom, der mich mit sich zieht und mir die Beine unter den Füßen weghaut. Ich falle in den Schnee und schlage auf ihn ein, bis meine Fingerknöchel rot vor Kälte sind. Bitterlich weinend reiße ich die Lippen auf und stoße einen herzzerreißenden Laut aus. Meine Tränen fallen in den Schnee wie Wasserfälle. Sie erstarren zu Eis und hinterlassen kleine Löcher im weißen Pulver. Es ist so kalt... so beißend kalt, dass meine Hände und Knie taub werden. Wie lange ich unter der Tanne krümme und weine kann ich nicht sagen. Ich vergieße alle Tränen, die ich aufbringen kann, und selbst als keine mehr meine geröteten Augen verlassen will, schluchze ich, weil mir klar wird; mein ganzes verdammtes Leben war eine Lüge. Vom Tag meiner Geburt bis zur Ankunft auf diesem Castle. Alles basiert auf einer Lüge.

Eine große Hand holt mich aus den Tiefen meiner Trauer und eine warme Wolldecke schling sich um meine Schultern. Es ist nicht Santino der neben mir in die Knie geht. Ein herber Duft ummantelt mich und lässt mich aufschauen. Der braunhaarige Schotte kniet neben mir und legt mir die karierte Decke behutsam um. Er sagt kein Ton, sondern studiert mein geschwollenes Gesicht stumm. Schniefend wische ich mir unter den Augen lang und stecke meine kribbelnden Finger unter die warme Decke. »Fergus?«
Er nickt mit hängenden Mundwinkeln. Schniefend lehne ich mich gegen die Rinde des Stammes und klemme mir meine Haare umständlich hinter die Ohren. Es entsteht Stille zwischen uns, die guttut. Keiner von uns wagt es, etwas zu sagen, wir starren nur in die schneebedeckte Landschaft und lassen die Zeit verstreichen. Ich fühle mich auf eine Weise mit ihm verbunden, die mir nicht bekannt ist. Ich fühle seinen Schmerz, und ich glaube, dass er tief im inneren auch meinen fühlt. Seine verkrampften Schultern und die trauernde Miene. Er trägt es bereits Jahre mit sich herum, während ich es gerade erst erfahren habe.
»Wie...was ist passiert damals?«, traue ich mich nach einer Weile Lippenbeißend zu fragen. Fergus schiebt seine Hände in die Taschen seiner Winterjacke und legt den Kopf in den Nacken. »Es war ein Auftrag, den die Karakovs angeordnet hatten. Sergio, Milas Vater sollte ihnen Angst einjagen, um meinem Onkel zu zeigen, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Die Sache geriet außer Kontrolle und sie starben. All die Jahre dachte ich, du seist auch Tod«, erzählt er und verzieht seine Lippen schmerzlich. Zitternd schaue ich ihn an. »Aber das bin ich nicht«, krächze ich leise und versuche seine Worte zu verdauen. Mila ... seine Freundin? Ihr Vater hat unsere Eltern getötet? Wieso ist er dann mit ihr zusammen? Wusste sie davon nichts?
Das alles verschafft mir Kopfschmerzen. Ich reibe mir meine Stirn in die Hoffnung das sie verschwinden, was nicht funktioniert. Zischend schließe ich meine Augen und sinke auf meine Beine. Fergus Hand legt sich zurückhaltend auf meinen Arm. »Glaub mir, dass macht mich genauso fertig wie du. Ich wollte es erst nicht glauben, als ich alles erfahren habe. Ich hoffe nur, dass du verstehst, dass ich für dich da bin, falls du antworten, oder etwas anderes brauchst. Ich...« Seine Stimme bricht.
Bibbernd schaue ich ihn an und das erste Mal treffen sich unsere Augen. Ich erkenne den tiefen Schmerz und das Leid in ihnen, und würde mich am liebsten in seinen Armen suhlen, was ich mich nicht traue. Stattdessen kullert mir eine letzte Träne über die Wange, die er mit seiner Hand auffängt und mein Gesicht fast in ihr untergeht, da sie so groß ist. Seine rauen Finger streifen meine Haut und ich stoße ein Schluchzen aus, dass mir durch Mark und Knochen fährt. »Also sind wir ... Geschwister?«, wispere ich und auf seinem Gesicht macht sich ein trauriges Lächeln breit. »Sind wir«, bestätigt er und mein Herz schmilzt fast wie Schnee an einem warmen Frühlingstag. Ich habe einen Bruder. Einer, der mein Leid teilt, meinen Schmerz fühlt, und dessen Augen ich habe. Jemand, durch dessen Adern auch mein Blut fließt und wir so für immer verbunden sind. Einer der mich so liebevoll anschaut, dass ich glatt wieder in Tränen ausbrechen würde, wenn ich könnte. »Erzähl mir, was an dem Abend passiert ist...«

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now