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LILLIAN

Wochen sind vergangen und es ist Mitte Dezember. Der kalte Regen ist endlich dem Schnee gewichen und hat die gesamte Stadt in ein Winterwunderland verwandelt, auf die ich aus meinem Büro einen perfekten Ausblick habe. Hinter meinem Schreibtisch sitzend rühre ich meinen dampfenden Kakao um und blättere mich digital durch den Entwurf der morgigen Ausgabe der Zeitung. Langsam habe ich mich wieder etwas eingelebt und das Geschehene zum Teil verarbeitet. Maya ist nicht untätig dabei gewesen. Auch wenn ich mich ihr nicht anvertraut habe, half sie mir, da sie spürte dass es mir nicht gut ging. Wir waren zweimal im Restaurant essen und treffen uns jeden Tag zum Lunch in der Firma. Ich mag sie und genieße die Zeit, die wir miteinander verbringen. Manchmal ist sie etwas verpeilt, aber dennoch eine gute Freundin. Sie hat mir in London gefehlt. Vielleicht schaffe ich es bald, mich ihr anzuvertrauen. Im Moment bin ich dazu nicht in der Lage.
Nach meiner Rückkehr musste ich feststellen, das ich mit der Sache, die in London passiert war, doch nicht so gut wie zuerst klarkam. Sobald ich abends allein in meinem Bett lag, holten die Erinnerungen mich ein. Die ersten Nächte konnte ich kaum schlafen und selbst jetzt bei der Arbeit driften meine Gedanken ab und zu weg. Ich weiß nicht, wieso ich es in Schottland so gut im Griff hatte. Lag es daran, dass ich endlich meine Familie gefunden hatte? Oder an Santino, der mir nicht von der Seite wich?
Ich habe mit dem Italiener seit Wochen keinen Kontakt mehr. Weder persönlich noch über mein Telefon. Ein kleiner Teil in mir fühlt sich merkwürdig an, obwohl ich weiß, dass es besser so ist. Wir beide wussten es damals im Auto. Tatsächlich belästigte mich das NYPD in den letzten Wochen nicht, worüber ich jeden Tag dankbar bin. Vermutlich haben sie noch mit den Unterlagen zu tun, die Santino der Agentin damals im Hausflur zugespielt hat. Was in der Mappe war, weiß ich bis heute noch nicht. Ich spekuliere auf Unterlagen, die die Vallians -ihre Feinde- betreffen. In der Stadt regelt noch immer die Ausgangssperre den Tagesablauf. Die Kämpfe sind unerbittlich und nicht während unserer Abwesenheit zum Erliegen gekommen. Ich hoffe, das hat bald ein Ende. Es ist blutig und grausam, weshalb ich schon keine Nachrichten mehr schaue. Einstig auf der Arbeit begegnet mir das Thema, denn bei einer Zeitung zu arbeiten, ist quasi wie die Nachrichten zu lesen, anstatt sie zu schauen. Es ist unvermeidbar.

~

Mittags klopft Maya an die Tür meines Büros und drückt die Türklinke mit ihrem Ellenbogen herunter. »Hey, unser Essen ist da«, lässt sie mich wissen und mein Magen knurrt bereits vor lauter Hunger auf. Wir beide haben uns vorhin Sushi bestellt. Die blondhaarige stellt die Plastikschalen auf meinen Schreibtisch und ich schiebe meinen Bildschirm zur Seite, damit wir genug Platz haben. »Das sieht sehr lecker aus«, merke ich begeistert an und schnappe mir die Schale, die ich mir bestellt habe. Das kleine Schälchen mit Soyasoße öffne ich und breche die Stäbchen auseinander, um anfzufangen. »Sehr gut sogar, der Lieferrant war auch zum anbeißen heiß«, gesteht Maya und ich verschlucke mich fast an der ersten Portion Sushi. »Wie bitte?«, huste ich und Maya reicht mir eine der zwei Dosen Cola, die wir uns dazu bestellt haben. Gott, das kam jetzt unerwartet. Dankend nehme ich ihr das Getränk ab und trinke zwei große schlucke davon, um das kratzige Gefühl aus meinem Hals verschwinden zu lassen. »Sorry«, kichert Maya weiter und verschlingt mit einem großen Bissen ihr erstes Röllchen Sushi mit Lachs. »Also«, murmelt sie mit vollem Mund und schaut mich an, »heute schon was vor?«
Neugierig wie immer.

Kopfschüttelnd tauche ich meinen nächsten Happen in die Soyasoße und schiebe ihn in meinen Mund. »Nein, ich werde sicher bis Sonnenuntergang im Büro sitzen und danach todmüde ins Bett fallen«, spekuliere ich. Zu mehr habe ich ohnehin nicht Lust.
»Und du?«
»Ich treffe mich mit Bex«, verkündet sie und ich kann mein überraschtes Gesicht nicht verbergen. »Bex, der Barkeeper?«, nuschle ich ungläubig mit vollem Mund und die blonde Journalistin nickt zustimmend. »Hm, wir... wir gehen was trinken.«
»Und? Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?«, frage ich und deute ihr mit der Hand weiterzusprechen. Sie verdreht theatralisch ihre Augen und öffnet ihre Dose geschickt mit einer Hand. »Wir sind ein paar Mal ausgegangen und er war sehr nett. Erzählt aber nicht viel über sich...«, merkt sie etwas enttäuscht an und verzieht ihre Lippen. Kein Wunder, denke ich mir und muss unweigerlich über Santino nachdenken. Bex kennt ihn, oder? Ich nehme an, da er damals derjenige war, der ihn angerufen hatte, als ich betrunken war. Wenn ich mich recht an Santinos Worte erinnere.
»Und ihr... ist es es was ernstes?«
»Mhm, weiß nicht«, gibt sie ehrlich zu, »wir haben uns öfters getroffen und waren ein paar mal aus. Mehr ist da noch nicht gelaufen, aber ... aber ich finde ihn nett«, gesteht sie und errötet ein bisschen. Die sonst so schnatternde Maya wird plötzlich ganz verlegen. An meinen Mundwinkeln zupft ein breites Lächeln. »Freut mich für dich«, sage ich, während in meinem Kopf Bilder von unserer wilden Partynacht hochkommen.
Gott ich war so betrunken damals.

»Und du?«, wechselt sie das Thema und schaut mich mit großen Augen an, »was läuft mit dem großen Kerl, der dich damals aus dem Club geschleppt hat?«
Neugierig schaufelt sie sich zwei weitere Bissen Sushi in den Mund und schaut mich abwartend an. Ihre Pupillen huschen immer wieder hinunter auf meine Bluse und ich folge ihrem Blick verwundert. Santinos Kette ist aus dem Seidenstoff gerutscht und glänzt in der Wintersonne die durch die großen Fenster ins Zimmer fällt. Kauend schiebe ich den Anhänger zurück in meine Bluse. Er bleibt zwischen meinen Brüsten hängen und bringt mein Herz dazu zu poltern. Über ihn zu sprechen, möchte ich nicht. Es ist mir zu persönlich und ehrlich gesagt schmerzt die Erinnerung an ihn. Wir hatten ein paar schöne Wochen aber mein Unfall ... das was passiert ist, kommt immer wieder in mir auf wenn ich an ihn denke. Ich will nicht ständig an das erinnert werden, was ich fast hätte haben können. Das Kind, dass ich verloren habe, wird kein Gedanke der Welt wiederbringen. Ja, wir mussten uns Lebewohl sagen, aber er meinte ich solle seine Kette behalten, falls ich sie brauche. Der Anhänger um meinen Hals wiegt schwer auf meinem Herzen. Ich finde keine Worte für das, was ich sagen will, sondern nur für die Dinge, die ich für mich behalten werde.
»Da war nichts«, wispere ich also lediglich, »er hat mir nur diesen einen Abend geholfen.«
Maya nickt, aber ihr Blick bleibt dennoch misstrauisch. Sie spürt, dass da noch etwas ist, doch fragt nicht weiter nach, wofür ich sehr dankbar bin.
»Also wo führt dich die Arbeit als Nächstes hin? Hast du Ansätze, Ideen? Eine verdeckte Recherche?«, wechsle ich das Thema und Maya hält inne, um darüber nachzudenken. »Nein, nein«, winkt sie schnell ab. Viel zu schnell, für meinen Geschmack.
»Hast du Lust Schlittschuh laufen zu gehen?«, möchte sie wissen, als wir fertig gegessen haben. Sie packt die leeren Plastikschalen aufeinander und ich nicke. »Sicher, das hört sich toll an. Wann denn?«
»Diesen Samstag? Die große Eislaufbahn am Central Park soll sehr schön sein«, schlägt sie vor. Diesen Samstag? Wieso nicht. Vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken und lenkt mich von meinen Problemen ab. Als sie wegschaut, berühre ich die Kette um meinen Hals und beiße mir auf die Unterlippe. »Okay«, bestätige ich und setze ein Lächeln auf. »Also Samstag im Central Park.«

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now