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LILLIAN

An einem Samstag die Eislaufbahn im Central Park zu besuchen, ist nicht die klügste Idee gewesen, denke ich mir, als ich die vielen Leute am Eingang des Parks erblicke. Unter einer Straßenlaterne stehend warte ich auf Maya, die sich etwas verspätet. Sie hat mir getextet, dass ihr Taxi im üblichen Stadtverkehr steckengeblieben ist und sie deshalb zehn Minuten später kommt, was halb so wild ist. Ich freue mich auf den Nachmittag mit ihr, sie ist eine tolle Freundin. Ich bin so froh, sie zu haben. Vor allem, nach all dem was passiert ist. Vor ein paar Stunden habe ich mich dazu entschlossen, ihr das mit London zu erzählen. Das ich im Krankenhaus lag und fast gestorben bin. Es fällt mir schwer, aber ich habe das Gefühl, dass etwas zwischen uns steht und möchte keine Geheimnisse vor ihr haben. Sie hat ja schließlich auch keine vor mir. Freundschaft geht mit Ehrlichkeit einher. Es ist wichtig, alle Karten auf den Tisch zu legen, damit es nicht zum Streit kommt. Maya verdient diese Ehrlichkeit von mir, da sie immer für mich da war in letzter Zeit, auch wenn ich nicht darüber sprechen wollte. Nein, das will ich immer noch nicht, aber vielleicht mache ich heute den Anfang. Es bedrückt mich und ich fühle mich schlecht, wenn ich ihr nichts davon erzähle. Wenn ich schon mit Santino nicht mehr darüber sprechen kann, dann vielleicht mit ihr.
Maya und ich sind gute Freunde geworden, was ich zu Anfang nicht gedacht hätte. Ich weiß noch genau, wie wir damals im Club waren und uns so betranken. Es war er Abend an dem sie Bex kennenlernte. Obwohl sie nicht sagen will, dass zwischen den beiden was läuft, sehe ich es in der Röte ihres Gesichtes, wenn wir über ihn sprechen. Sie empfindet etwas, und das wird sie sich irgendwann eingestehen.

Ein gelbes Taxi hält am Bordstein ein paar Meter weiter weg und ich entdecke die blonde Journalistin, die eilig aussteigt und dem Fahrer ein paar Scheine in die Hand drückt. Sie schaut sich um, erblickt mich und eilt mit ihrer Tasche um die Schulter auf mich zu. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, begrüßt sie mich entschuldigend und öffnet ihre Arme, damit wir uns umarmen können. Lächelnd erwidere ich die warme Geste und winke ab. »Schon okay Maya, ich bin ja noch kein Eisklotz geworden«, sage ich und sie kichert. Unser Atem steigt rauchend in die kalte Luft auf und sie hakt sich bei mir unter, als wir loslaufen. »Ich hoffe du wartest noch nicht lange?«, fragt sie und richtet mit einer Hand ihre schiefe Mütze. »Nein, nein, vielleicht fünf Minuten. Meine U-Bahn kam etwas zu spät und deshalb warte ich noch nicht lang«, erkläre ich und ihre Schultern sinken gen Boden. »Da bin ich ja beruhigt«, grinst sie und wir stapfen zusammen durch den Schnee. Die breiten Kieswege im Central Park sind so gut es eben geht geräumt wurden, aber dafür türmen sich Berge voller Schnee an den Rändern und immer wieder fallen von den einzelnen Nadelbäumen Batzen. Diese Nacht hat es so viel geschneit, dass draußen auf meinem Fensterbrett ganze zwanzig Zentimeter des eisigen Pulvers lagen, als ich aufwachte. New York erstrahlt in bunten Lichtern und wirkt wie das reinste Wintermärchen so kurz vor Weihnachten. Das Fest ist tatsächlich schon in zwei Wochen, und bis jetzt habe ich noch kein einziges Geschenk für meine Eltern gekauft. Das sollte ich dringend aufholen, bevor die Feiertage beginnen und ich mit leeren Händen dastehe.
»Das ist dein erstes Weihnachten in New York, oder?«, frage ich als mir in den Sinn kommt, das Maya nicht von hier ist. Sie nickt im Laufen und betrachtet den zugefrorenen See verträumt. »Ja, sonst bin ich immer zu meiner Familie in den Süden, aber dieses Jahr bleibe ich.«
»Wegen jemanden?«
»Vielleicht«, zwinkert sie und ich lache. Es ist so offensichtlich, dass bei Bex und ihr etwas läuft, also wieso verheimlicht sie es nur?

»Und du? Was hast du vor?«, lenkt sie mich neugierig ab und schaut mich mit großen Augen an. »Ach«, wispere ich und schlage mir das eine Ende des Schals über die Schulter, »ich fahre am zwanzigsten zu meinen Eltern. Die beiden wohnen in Rochester am Ontariosee. Da bin ich auch aufgewachsen«, erzähle ich ihr. »Das klingt schön.«
»Ja, sehr schön. Ich freue mich, da ich eigentlich bereits Thanksgiving zu ihnen wollte, aber leider in London war«, seufze ich und bekomme sofort ein schlechtes Gewissen, da ich meiner Mom absagen musste. »Stimmt«, fällt Maya auf, als wir in Sichtweite der Eislaufbahn kommen. »Wieso hast du deinen Aufenthalt dort verlängert, wenn du zurück wolltest?«, fragt sie und ich spüre, dass nun der Moment der Wahrheit gekommen ist. Es bringt nichts, es ihr weiter zu verheimlichen.
»Naja«, beginne ich langsam und starre auf den schneebedeckten Boden beim laufen. Es knirscht bei jedem Schritt unter unseren Sohlen.
»Ich musste ins Krankenhaus«, gestehe ich und bringe mein Herz nervös zum klopfen. Es fühlt sich so komisch an, darüber zu sprechen, da ich es so lange verdrängt habe.
»Ins Krankenhaus?«, hakt sie mit großen Augen nach und bringt mich zum stehenblieben, als sie an meinem Mantel zupft. Nickend trete ich ihr gegenüber und schiele an ihr vorbei auf den See. Ich kann sie aus einem unbekannten Grund dabei nicht anschauen. Vielleicht weil es die Worte so realer macht. »Weist du, was bei einer Eileiterschwangerschaft passiert?«, murmle ich und schiebe Unbehagen meine kalten Hände in die Taschen. Maya runzelt ihre Stirn und versucht etwas in meinen Augen abzulesen. »Was... was soll das bedeuten? Dass du eine hattest?«, krächzt sie mit schriller Stimme und ein altes Ehepaar, dass an uns vorbeiläuft, schaut uns komisch an. »Sch«, deute ich ihr mit einer Hand leiser zu sein. Es ist mir unangenehm so viel Aufmerksamkeit zu verursachen. Das Thema bereitet mir ohnehin schon genug Bauchschmerzen. »Ja, ja soll es. Ich lag einige Tage im Koma und bin fast gestorben. Sie mussten mir einen Eileiter entfernen und deshalb konnte ich nicht fliegen, ehe alles verheilt war«, mache ich ihr klar und Maya atmet baff aus. Sie öffnet den Mund, aber kein Ton will ihr herauskommen. In ihren Augen lese ich den Schock ab. Sie weis offensichtlich nicht, was sie antworten soll, weshalb ich erneut das Wort ergreife, um die Situation nicht unangenehmer zu machen, als sie ohnehin schon ist. Mich wieder bei ihr unterhakend bringe ich sie dazu weiterzulaufen. Wir sind fast bei der Eisfläche und ich möchte mich etwas ablenken. »Du...du hättest es mir früher sagen können, ich wäre doch für dich da gewesen«, flüstert Maya nach einer ganzen Weile. Lippenbeißend blinzle ich die aufkommenden Tränen weg. Wieso ich weinen muss, weis ich nicht. »Ja, ich wusste nur nicht, wie ich ... wie ich damit klarkommen soll. Aber es fühlt sich gut an, es dir erzählt zu haben«, gestehe ich ihr und zwinge mir ein kleines Lächeln auf. Maya seufzt mitleidig, und bewirkt genau dass, was ich nicht haben wollte. Mitleid. »Was kann ich tun, damit du dich besser fühlst?«, will sie sofort wissen und ich muss nicht lange darüber nachdenken. »Lass uns einfache einen tollen Nachmittag verbringen«, bitte ich und ziehe sie zur Holzbude, in der sie Schlittschuhe ausleihen. Ein paar Stunden an nichts anderes zu denken als das hier und jetzt, wird mir guttun.

~

Erst bei Nacht wird das Schlittschuh laufen magischer denn je. Als die Sonne den Platz mit dem Mond tauscht und New York mit tausenden weihnachtlichen Lichtern erstrahlt, fühle ich mich frei auf dem Eis.
Wir sind stundenlang gefahren, haben gelacht und fast davon geweint, weil uns der Magen schmerzte. Maya ist hingefallen, hat mich fast mit sich gerissen und wir lachten, als gäbe es keinen Morgen, bis uns die Finger und Nasen taub wurden vom kalten Wind und wir beschlossen, aufzuhören. Nun stehen wir an einer der zahlreichen Buden und gönnen uns einen heißen Kakao, um uns aufzuwärmen. »Es war ein toller Tag, das hat so viel Spaß gemacht«, spricht die Blondine meine Gedanken aus und grinst über beide Ohren. An meinem Getränk pustend nicke ich zweimal. »Ja, ein Wahnsinns schöner Samstag. Machen wir das nächste Woche noch einmal?«, schlage ich glücklich vor. Meine Arbeitskollegin setzt sich langsam in Bewegung und wir laufen den Weg durch den Park zurück. Bei Nacht zur Weihnachtszeit sind einige Bäume komplett in Lichterketten gewickelt, jeder Ast hat einen Strang Lämpchen, bis in die Kronen. Es ist ein Meer aus Lichtern als wir unter dem lichten Blätterdach durchlaufen. Es hängen nur noch wenige in den Ästen. »Ja, vielleicht auch Freitag nach der Arbeit«, schlägt sie vor. »Und die Ausgangssperre?«, wende ich ein. Schulterzuckend verzieht sie ihre Lippen. »Vielleicht gibt es ja bis dahin keine mehr«, tut sie es ab und weckt meine Neugierde. »Weist du was, dass ich nicht weiß?«, frage ich sie und nippe an meinem köstlichen Kakao. Die heiße Schokolade wärmt meinen Magen und Hals wohlig. Wenn ich zuhause bin, werde ich mir ein schönes Bad gönnen, und ein wenig Fernsehen. Es scheint mir genau das richtige, nach der langen Zeit draußen. Heute dürften es kaum mehr als fünf Grad sein.
»Ich meine ja nur... vielleicht sind die Kämpfe bis dahin versiegt und alles geklärt.« Sie zuckt mit ihren Schultern und versenkt ihren leeren Pappbecher in einem der Mülleimer am Ausgang des Central Parks. Wahrscheinlich hat sie recht. Immerhin ist die Journalistin. Wenn sie es nicht weis, wer dann?
»Hast du ein Uber gerufen?«, möchte ich auf dem Gehweg stehend wissen. Langsam kriecht die Kälte unerbittlich in meine Knochen und nicht mal der Kakao scheint noch zu helfen. Maya tippt auf ihrem Telefon herum und nickt grübelnd. »Ja, laut dem GPS ist es ein paar hundert Meter weiter in die Richtung«, sagt sie und deutet mit dem Finger die Straße hinab. »Also Gut, komm«, lächle ich und wir folgen der Stecknadel auf ihrem Telefon. Zu dieser Zeit sind noch einige Menschen auf den Straßen unterwegs, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass die Ausgangssperre bald in Kraft tritt. Ob es vielen inzwischen egal ist? Ich bin froh, wenn ich rechtzeitig zuhause bin, damit sowas wie damals nicht nochmal passiert.

»Hier lang.« Maya zieht mich am Ärmel in eine Seitenstraße, die von beiden Seiten mit hohen Häuserwänden umgeben ist. Am Ende der düsteren Gasse, die vielleicht vier Meter breit ist, entdecke ich ein Auto und die nächste Straße. Anscheinend war dies nur eine Abkürzung. Es ist so düster, das ich kaum sehen kann. »Voll unheimlich hier, Maya. Wieso parkt der Fahrer so weit weg?«, frage ich als wir einige Mülltonnen passieren. Die blonde antwortet mir nicht. Jetzt entdecke ich den großen in schwarz gekleideten Mann, der an der Motorhaube des Autos lehnt. Es ist kein Auto, sondern ein Bus. »Maya was für ein Uber ist das?«, frage ich sie und sehe sie nicht mehr neben mir. »Maya?«, verwundert drehe ich mich um und sehe sie einen Schritt hinter mir im Schutz der Nacht. Bevor ich reagieren kann, trifft eine dumpfe Eisenstange meine Schläfe und mein Körper prallt hart auf den Asphalt auf. Sterne tanzen vor meinen Augen und die Schwärze holt mich langsam ein. Mein Herz rast, meine Stirn pocht als hätte mir jemand eine mit einem Hammer verpasst. Der Becher platzt neben mir auf dem Boden auf und Kakao ergießt sich über den Boden. Ich realisiere was geschehen ist, als es schon zu spät ist.
»Fuck, musst du so doll zuschlagen?«, erklingt plötzlich eine Männerstimme und schwere Schuhe kommen neben meinem Kopf zum stehen. Alles dreht sich, ich fühle eine warme Flüssigkeit auf meiner Stirn. Ich... was passiert hier?
»Scheiß dir nicht in die Hosen«, keift Maya bissig, und ich erkenne sie nicht wieder. Ihre Stimme ist so voller Hass und Kälte. »Lad sie schon ein und beeil dich gefälligst. Die wird schon wieder. Julian wartet auf uns, und du willst ihn nicht sauer machen, oder?«

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now