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SANTINO

Fergus ist tatsächlich gekommen.
Mit seinen Männern und Ewan im Schlepptau, sind sie vor einer halben Stunde vom Flughafen angekommen. Ich habe ihnen die Gästezimmer im Haus überlassen und bin froh, dass sie hier sind. Es war nicht halb so beängstigend ihm zu begegnen, wie ich es mir vorgestellt habe. Fergus' Zorn scheint sich auf die Vallians zu konzentrieren, worüber ich ganz froh bin. Sein Temperament will ich nicht auf mich ziehen. Nicht, wenn ich mir selbst Vorwürfe wegen Lillian mache. Es tut mir so unglaublich leid, er weiß gar nicht wie sehr. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Ich kann nur beten, dass sie in einem guten Zustand ist, wenn wir sie da rausholen.
»Hey«, raunt Fergus hinter mir stehend. Ich werfe ihm einen Blick über die Schulter zu, entdecke ihn gerade ins Wohnzimmer des Penthouses laufend. »Ewan und dein Vater verkosten den Scotch, den wir mitgebracht haben«, sagt er und tritt neben mich. Wir stehen vor den großen Scheiben und beobachten die Schneeflocken beim Fallen. Es ist ein idyllisches Bild, dass sich uns von New York City bietet. Doch die Stille ist trügerisch.
»Er sollte heute Abend nüchtern sein«, merke ich an und Fergus stößt einen laut aus. »Ewan oder dein Vater?«, fragt er nach. »Cedar, aber besonders Ewan. Er wird dabei sein, wenn wir angreifen und-«
»Mach dir keine Sorgen, er kennt seine Grenzen«, versucht mich der Schotte zu besänftigen. Klappen tut es nicht. Jede Faser meines Körpers ist restlos angespannt, und ich werde erst ruhen, wenn Lillian sicher ist. Ihr Bruder verschränkt seine Arme vor der Brust, so wie ich zuvor, und studiert mich von der Seite. »Das was ich am Telefon sagte, meinte ich ernst«, raunt er. »Ich weiß«, murmle ich nachdenklich, meine Sicht verschwimmt mit der Skyline und den grauen Schneewolken. »Und es tut mir leid, dass das passiert ist. Ich schwöre, dass dies nie wie-«
»Oh da bin ich mir sicher«, unterbricht der dunkelhaarige mich garstig, »wenn du ihr nochmal wehtust, selbst wenn es nur ein Papierschnitt ist, wird das dein Ende gewesen sein. Ich werde nicht zulassen, dass meiner Schwester nochmal was passiert. Weißt du, wie lange ich dachte, ich hätte nur Ewan, meinen Onkel und meine Tante? Als ich erfahren habe, dass meine kleine Schwester lebt, dachte ich, ich wäre in der Matrix oder so. Es war unmöglich, dass sie noch lebte und doch wusste ich beim ersten Treffen, das Lillian es ist. Sie ähnelt meiner Mutter wie ein Zwilling und ich kann nicht zulassen, dass sie mit jemand nimmt.«
Fergus Schmerz in seiner Stimme macht mich sprachlos. Wir beide sind nicht diejenigen, die oft über unsere Gefühle sprechen, das habe ich bereits in den letzten Jahren bei unzähligen Besuchen erkannt. Ich sah, wie er mit seiner Sucht kämpfte, wie er fast daran zugrunde ging. Wir ähneln uns in gewissen Dingen. So wie er, würde ich alles dafür tun, um das Leben eines geliebten Menschen wiederzuholen. Ich würde sterben, nur damit meine Mutter wieder atmen könnte. Fergus würde alles für seine Schwester tun, weil er in ihr eine Chance sieht, es nun besser zu machen. Weil sie dasselbe Blut teilen, und weil sie eben seine kleine Schwester ist. Würde ich in seiner Haut stecken, hätte ich nicht anders reagiert. Deshalb kann ich ihm nichts davon übelnehmen oder sauer werden.
»Ich verstehe dich. Ich werde es besser machen, versprochen. Lass es mir dir beweisen, wenn wir sie wiederholen«, bitte ich ihn und lege meine Stirn in tiefe Denkfalten. »Wir sollten den Plan mit euch durchgehen, damit wir aufbrechen können, sobald es dunkel wird«, schlage ich vor. Lillians Bruder nickt. »Ja, vermutlich sollten wir mal nach deinem Vater und Ewan schauen, bevor die Flasche leer ist.« Fergus klopft mir auf die Schulter, bevor er losläuft und ich ihm folge. Mein Herz klopft aufgeregt, wenn ich daran denke, dass ich Lillian bereits in ein paar Stunden wiedersehen werde.

Aus dem Arbeitszimmer meines Vaters dringt kehliges Gelächter in den Flur des Hauses. Fergus wirft mir einen verwirrten Blick zu, den ich erwidere. Cedar und Ewan scheinen sich prächtig zu amüsieren. Beim Eintreten entdecke ich sie am großen ovalen Versammlungstisch sitzen. Mein Vater wie immer am Kopfende, mit einer Zigarre in der Hand und einem Glas Schnaps in der anderen. Ewan hat sich auf einem der Stühle an den Seiten niedergelassen und trinkt gerade seinen Whisky leer. Erst als das Glas geleert ist, setzt er es auf dem Tisch ab und lacht weiter. Räuspernd versuche ich auf uns aufmerksam zu machen. Die beiden sind so in ihrem Gespräch vertieft, dass sie nicht mitbekommen haben, dass wir soeben den Raum betraten. »Santino!«, begrüßt mein Vater uns und winkt Fergus und mich näher. Wie üblich sinke ich an das andere Ende des Tisches und nehme ihm gegenüber Platz. Als Erbe der Benellis ist mir dieser Platz vorbehalten. Früher, als mein Großvater noch lebte, saß mein Vater hier.
»Seid ihr fertig?«, frage ich sie und Cedar setzt die teure Flasche neben sich auf dem Boden ab. Räuspernd drückt er die fette Zigarette in dem gläsernen Aschenbecher aus und nickt auf die Pläne in unserer Mitte. »Willst du uns vielleicht erklären, welchen Plan es gibt?«, will er wissen, »immerhin leitest du die Operation.«
»Sicher«, stimme ich zu und warte, bis Fergus sich niedergelassen hat. Die Anspannung im Raum kann man nicht ignorieren. Er und ich sind persönlich involviert und das ist nie gut. Fehler dürfen wir uns heute Abend nicht erlauben, sonst könnte jemand sterben.
»Kyle wird mit Fergus Team zwei Leiten, Marco Team drei. Ewan, ein paar von seinen Jungs und ich sind Team eins. Wir gehen durch den Hintereingang in die Villa der Vallians.« Mein Zeigefinger deutet auf den Bauplan der großen Villa in der Stadt, ein altes prunkvolles Gebäude, das allerdings Schwachstellen hat. »Fergus und die anderen werden am Tor ein bisschen Krach machen und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit wir hineinkommen, ohne gesehen zu werden. Keith, den Ewan mitgebracht hat, wird die Überwachungskameras auf dem Areal mit einem Band überspielen. Team drei knüpft sich den ersten Stock vor, wir den Keller. Sobald Team zwei den Vorgarten und die Einfahrt sichern konnte, werden wir tiefer ins Haus vorrücken. Ziel ist der Keller.« Mein Finger tippt gegen das nächste Stück Papier. Es war eine Qual, die Papiere in den Archiven des Bauamtes zu finden, besonders da sie unter Verschluss waren und wir eine Menge Bestechungsgelder fließen lassen mussten, um an die Unterlagen zu kommen. Julian will offensichtlich nicht, dass jemand seine Villa in und auswendig kennt. Er denkt er wäre dort sicher, aber das ist er nicht, denn in Wahrheit sitzt er gerade in seiner größten Schwachstelle.
Meine Augen fallen auf die Strähne von Lillians braunen Haaren, die sie uns in einem Briefumschlag vor die Tür gelegt haben. Meine Fingerkuppen streifen unbemerkt darüber und mein Herz wird augenblicklich schwer, wenn ich daran denke, was sie mit ihr angestellt haben könnten. Gnade ihnen Gott, wenn sie verletzt ist.
»Wir erregen so wenig Aufmerksamkeit wie es geht. Das wird eine Nacht und Nebel Aktion. Bei Abbruch der Dunkelheit machen wir uns auf den Weg.«

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now