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LILLIAN

Die große Bibliothek des Castles ist atemberaubend schön. Raumhohe Regale, die weit über tausend Bücher auf ihren Böden stehen haben müssen, ein großer steinerner Kamin mit einer gemütlichen Sitzgruppe, ein Tisch unter den großen Fenstern, die bis über zwei Stockwerke reichen. Die Decke in der Bibliothek ist geöffnet und es befindet sich eine hölzerne Empore, die die zweite Etage mit einer hinaufführenden Wendeltreppe offenbart. Der Raum muss gute sechs Meter hoch sein, doch es schallt weder, noch ist es kalt.
Ich kuschle mich unter die Wolldecke, die auf dem Sofa liegt und lausche dem knisternden Feuer, über dessen Kamin ein großes altes Porträt eines Mannes hängt. »Wer ist das?«, frage ich neugierig, während Fergus neues Holz nachlegt. »Unser Großvater«, erzählt er und betrachtet den Mann mit den strengen Gesichtszügen einen Moment. Er ähnelt ihm etwas, hat seine Wangenknochen und diesen autoritären Ausdruck, genau wie Ewan. »Ach ja? Kanntest du ihn?«
Fergus schüttelt seinen Kopf und sinkt in einen der Sessel links von mir. Bequem sinkt er tiefer in die Polster und legt den Kopf auf der Rückenlehne ab. An die Decke starrend trommeln seine Finger auf dem Polster. »Er ist gestorben, bevor ich geboren wurde.«
»Und unsere Großmutter?«
»Ebenfalls.«
»Wessen Eltern waren Sie?« Interessiert lege ich meinen Kopf schief.
»Die unseres Vaters. Er ... er hieß Garrett Duncan.«
Garrett, dass merke ich mir.
»Und unsere Mutter?«
»Melinda, aber er nannte sie immer Milly. Milly Duncan«, wispert er und schließt seine Augen. Er kannte die beiden und vermutlich kommen gerade Erinnerungen in ihm hoch. Etwas, dass ich mit den beiden nicht hatte. Fergus ergreift das auf eine andere Weise wie mich, selbst wenn wir den gleichen Schmerz fühlen. Er war dabei von Anfang an. Ich kannte sie nicht.
»Wie alt warst du, als es passiert ist?«
»Fünf oder sechs... ich weiß nicht mehr genau. Das meiste habe ich verdrängt«, gesteht er und ich könnte es ihm nicht mal übelnehmen. Er war ein kleiner Junge, der seine Eltern verloren hat. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für ihn gewesen sein muss.
»Sie wollten dich Isla nennen, hat mir Mom damals kurz vor dem Unfall erzählt«, fährt er fort und ein trauriges Lächeln umspielt seine Lippen. Der Kloß in meinem Hals wird so mächtig, dass ich ihn kaum noch verdrängen kann. Meine Augen werden wässrig und ich muss tief einatmen, um nicht sofort wie ein Schlosshund zu weinen. »Das ist süß«, lächle ich verträumt. Isla Duncan ist tatsächlich ein schöner Name, genauso wie Lillian. Lillian Duncan.
»Mein Namensvorschlag für dich war übrigens Mortimer«, merkt er an und ich breche in Gelächter aus. »Mortimer?«, kichere ich amüsiert und halte mir eine Hand vor den Mund. Er schaut mich lächelnd an und nickt. »Ewan hatte einen Hamster, der so hieß und ich dachte, dass das passen würde«, schmunzelt er. »Gottseidank heiße ich nicht so.«
»Ja, angesichts der Tatsache, dass der Name schrecklich ist, ist das wohl auch besser.«
»Erzähl mir mehr«, bitte ich ihn begeistert. Seine zurückhaltende Art drängt sich langsam zurück und der wahre Fergus kommt zum Vorschein. Ich mag, was er mir von sich präsentiert. Er ist schlau und unfassbar lustig, manchmal entdecke ich kleine Gemeinsamkeiten, die wir haben. Unsere Augenfarbe ist eine davon. Er und ich haben denselben Ton des satten grünes, der unsere Iriden wie eine Landschaft aus Moos und frischem Gras ausschauen lässt. Ob sie Moms Augen sind?

Wir verbringen Stunden in der Bibliothek und er erzählt mir Erinnerungen mit den beiden, oder Dinge, die ihn prägten. Je mehr ich über meinen Bruder erfahre desto mehr sinken meine verkrampften Schultern ab und ich fühle mich so unglaublich wohl in seiner Gegenwart. Fergus hat etwas vertrautes an sich, als würden wir uns schon ewig kennen. Als hätten unsere Seelen gewusst, wer der andere ist. Ab und zu erwische ich ihn, wie er mich heimlich mustert, auf eine liebevolle weiße, als könne er genau so wenig wie ich fassen, dass wir hier sitzen. Mit der Zeit entdecke ich immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen uns und es ist erstaunlich, wie ähnlich wir uns sind. Man muss nicht wissen das wir Geschwister sind, um es zu merken. Allein dieses Wort - Geschwister - jagt mir einen Schauer über den Rücken.
»Es ist irgendwie beängstigend«, murmle ich und knüpfe an meine Worte von gerade an, »ich hatte nie Geschwister.«
Fergus schiebt die Hände in die Taschen seines Hoodies und nickt. »Ewan war schon immer wie ein Bruder für mich. Nein, er ist es auch. Wir ... wir sind immer füreinander da und eine lange Zeit glaubte ich, dass er und seine Eltern die einzige Familie wären, die mir noch geblieben sind«, gibt er zu. »Aber das stimmt nicht«, murmle ich und er nickt erneut. »Ich weiß.«
Ein schüchternes Lächeln huscht über meine Lippen. »Ich ... nun ja ich hatte nur die Jones. Ich hoffe du bist mir nicht böse, wenn ich sage, dass sie für mich immer meine Eltern bleiben werden.«
Einen Moment lang sehe ich etwas undeutbares in seinen Augen aufflammen, was er schnell überspielt. »Klar, ich nehm's dir nicht übel.« Seine Stimme klingt dennoch verletzt. Seufzend rutsche ich auf dem Bezug des Sofas hin und her und beiße mir auf meine Unterlippe. »Ich meine nur, die beiden haben mich großgezogen und ich weiß erst seit ich vierzehn bin, dass sie mich adoptiert, haben«, versuche ich mich zu erklären. Fergus wendet sein Gesicht ab und starrt ins knisternde Feuer des großen Kamins. Die goldenen Flammen schlagen gegen den alten Sandstein und rauchen ihn ein. Es riecht nach Nadeln und feuchtem Holz, der sich mit dem Geruch der Seiten der alten Bücher vermischt. Er versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber meine Worte lassen seine Mundwinkel hängen. Auf seiner Stirn haben sich tiefe Furchen gebildet und von der Seite sieht er vom Leben gezeichnet aus. Seine Miene ist so hart wie Granit, als hätte er schon eine Menge durchgemacht. Wir wissen kaum etwas übereinander, was ich gern ändern würde.
»Erzählst du mir etwas über dich?«, bitte ich ihn zögerlich und lege meinen Kopf interessiert schief. »Das willst du nicht wissen, glaub mir«, versucht er mich abzubringen. »Doch«, untermauere ich meine Worte, »sehr gern sogar.«
»Ich habe so das Gefühl, dass du nicht lockerlassen wirst«, merkt er an und auf meine Lippen schleicht sich ein siegessicheres Grinsen. »Richtig.«

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now