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LILLIAN

Der Mond tauscht bereits den Platz mit der Sonne, als ich meinen Computer ausschalte und mich vom Schreibtisch erhebe. Vor der Dämmerung zuhause sein zu wollen, habe ich nicht geschafft. Die Uhr neben der Tür schlägt acht, so habe ich noch zwei Stunden, bis die Ausgangssperre in Kraft tritt. Vielleicht sollte ich es doch wagen, nachhause zu fahren. Im Büro zu übernachten, scheint mir doch weniger eine gute Idee zu sein, als heute Morgen vermutet. Ich starre gefühlte Stunden auf den Sessel neben den Fenstern, der nichtmal einen Hocker hat. Seufzend komme ich zu dem Entschluss, dass ich es wagen muss. Ich greife mir meinen Mantel, streife ihn über und hänge mir anschließend die Tasche über die Schulter. Mit meinem Wohnungsschlüssel in der Hand, verlasse ich das Büro.

Die Straßen sind wie gestern zu dieser Zeit leergefegt, kaum noch Menschen, außer die die nachhause wollen, sind unterwegs. Die meisten Geschäfte schließen bereits und alles bereitet sich darauf vor, sich einzuschließen. Ich passe einen kleinen rollenden Stand mit Tacos ab und kaufe mir zwei bei einem älteren Mann, der sie mir müde vom heutigen Tag überreicht und mir eine sicheren Weg nachhause wünscht. Nachdem ich seine Worte erwidere, ihm das Geld gebe und die Tacos in meiner Tasche verstaue, laufe ich weiter zur U-Bahn. Je kälter der Wind wird, desto enger ziehe ich den Mantel vor meinem Körper und muss an heute Morgen denken. Der Benelli Mann dachte wirklich, ich würde einen Artikel über ihn verfassen? Da könnte ich ihm gleich ins offene Messer laufen. Er weiß wo ich wohne und arbeite. Wenn er meinen Namen kennt, wird es für jemanden wie ihn nicht schwer sein, meine Adoptiveltern ausfindig zu machen und schlimme Dinge zu tun, sollte ich dumm sein. Ich will keines falls, dass die beiden verletzt werden, gar etwas von unserem aufeinandertreffen mitbekommen. Es wäre nur ein gefundenes fressen für meinen Dad, der nie wollte, das ich in die Stadt ziehe. Nicht in das Viertel in dem ich lebe, nicht in New York City.
In der U-Bahn fasse ich mir unterbewusst an die goldene Kette die um meinen Hals hängt. Seine Kette. Er gab sie mir als eine Art Pfand. Eigentlich würde ich sie ihm wieder zurückgeben, doch wenn ich in Little Italy auftauche, wird er denken, das ich meinen Gefallen einlösen will. Was könnte ich von jemandem wie ihm wollen? Einem Gangster? Einem vermutlichen Mörder? Ich will so viel Abstand zwischen uns bringen, wie nur möglich, einstig die Kette hindert mich daran, ihn vergessen zu können. Ich sehe ihn vor mir, wenn ich die Augen schließe. Letzte Nacht hat mich verändert. Ich habe Angst, wenn ich die einsame Straße Brooklyns zu meinem Apartment hinablaufe, da ich fürchte, das er jeden Moment wieder aus einer der Gassen gesprungen kommt.

Gegenüber meines Apartments flattert Polizei Absperrband im Herbstwind. Es ist an vier Pfeilern befestigt und markiert eine Stelle, an der sich eine große Blutlache gebildet hat. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, wie Millionen kleiner Nadeln, die sich in meine Haut bohren. Zwei Streifenwagen stehen noch immer am Straßenrand und besichtigen den Tatort. Ob dort jemand gestorben ist, während der Benelli Mann in meiner Wohnung war? Das hätte er sein können, wären wir nicht aufeinander getroffen. Mein Unterbewusstsein sagt mir, das ich es ruhen lassen sollte, aber die Neugier die in mir aufkeimt, droht zu siegen. Aber will ich wirklich wissen, wer er ist und zu was er fähig ist? Mit zitternden Händen schiebe ich den Schlüssel ins Loch und trete in den düsteren Hausflur. Die flackernde Lampe an der Decke geht automatisch an und ich warte bis die Tür ins Schloss gefallen ist, ehe ich die Treppen bis zu meiner Wohnung erklimme.

Meine Tasche setze ich nach dem Betreten auf der Kommode ab und verriegle die Tür mehrmals. Sicher fühle ich mich dennoch nicht. Ich Taste nach dem Schalter, tauche die Wohnung in warmweißes Licht und biege zuerst ins Badezimmer ab. Noch immer weisen Blutspritzer am Waschbecken auf den gestrigen Abend hin. Ich streife mir meine enge Kleidung ab, drehe den Hahn der Dusche auf und stelle mich unter den heißen Strahl. Ich genieße die Wärme des prasselnden Wassers auf meiner Haut. Meine Schultern sinken entkrampft ab und ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht, das ich unter den Strahl halte. Ausatmend schließe ich die Augen und höre mein Herz pochen. Ich habe es wirklich bis nachhause geschafft. Allein dafür, verdiene ich einen Orden. Gott, mir fällt fürs erste ein Stein vom Herzen.
Die Erschöpfung kehrt zurück als ich aus der Dusche trete und mich abtrockne und anschließend neu einkleide. Meine Augen huschen immer wieder aus den Fenstern hinaus auf die andere Straßenseite. Ich fühle mich sicher, die Polizei hier zu wissen, andererseits fühlt es sich beklemmend an, zu wissen, was dort unten geschehen ist.
Auf der Unterlippe nagend werfe ich mir frische Unterwäsche, eine kurze Hose und ein weites Shirt über. Die Kette baumelt um meinen Hals, während ich mich über die Tasche im Flur beuge und mir mein Essen heraushole. Ich wärme es in der Mikrowelle in der Küche auf und setzte mich endlich ins Wohnzimmer auf das Sofa. Dort, wo gestern noch der Fremde saß und übernachtet hat, sitze ich nun im Schneidersitz und verspeise meinen ersten Taco, während die Nachrichten auf dem Fernseher laufen. »In der Nacht zum Donnerstag gab es erneut heftige Ausschreitungen in New York City. Wie das NYPD bekanntgab, gab es drei weitere Opfer zwischen den rivalisierenden Familienclans. Täter wurden nicht benannt, doch es ist abzunehmen, das die italienischen Großfamilien darin verwickelt waren. Falls sie Hinweise oder-«
Ich schalte auf den nächsten Sender um. Die Nachrichtensprecherin wird mich kaum überzeugen, etwas zu melden. Ich setze weder mein, noch das Leben meiner Eltern aufs Spiel. Nein, so dumm werde ich nie sein. Die Jones haben mir so viel gegeben und ich möchte sie in nichts reinziehen, von dem sie keine Ahnung haben. Mom und Dad werden nie davon erfahren, das schwöre ich mir. Es ist ohnehin das letzte mal gewesen, an dem ich den Benelli Mann zu Gesicht bekommen habe. Vielleicht kann ich seine Kette in Littly Italy abgeben, ohne das ich ihn treffen muss. Ich brauche nichts von ihm, rein gar nichts. Jemand wie er und jemand wie ich, sollten nichts gemeinsames machen. Er hat seine Welt und ich die meine. Wir sind nicht wie Pfeffer und Salz, sondern wie Zucker und Essig. Man sollte unsere Welten nicht mischen.
Pappsatt lehne ich mich zurück und schaue eine Folge einer Komödie, die läuft, dabei entgeht mir nicht, das sein Duft noch immer am Kissen meines Sofas haftet. Nadelholz, Rasierwasser und frische Minze - es ist ein besonderer Geruch. Ich spiele gedankenverloren mit dem Anhänger der Kette um meinen Hals und schlafe schließlich müde auf dem Sofa ein.

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now