42

13.1K 373 36
                                    

SANTINO

Lillian alles beizubringen war leichter als gedacht. Sie hat es besser aufgenommen als ich es mir ausgemalt hatte, obwohl sie natürlich am liebsten gestern aufgebrochen wäre. Ich musste sie überzeugen, noch einige Tage in London zu verbringen, ehe wir in den Norden reisen konnten. Ich musste zuvor noch einige Dinge regeln, die auch Kyle mit einschlossen. Immerhin war Schottland seine Heimat und er kannte sich am besten dort aus. Da Lillian unmöglich schon fliegen kann, haben wir beschlossen mit dem Zug bis nach Edinburgh zu fahren, von dort aus mit dem Auto weiter. Kyle hat eine Möglichkeit gefunden, dass Auto mitzunehmen und ein paar Tickets in einem Zug mit Autowagon gefunden, die er uns gebucht hat. Es wird eine lange Reise werden, auf die wir bestens vorbereitet sein müssen. Neben uns drein werden uns noch fünf Wachmänner begleiten. Einer fährt bei uns mit, die anderen vier in einem zweiten Wagen. Sicher ist sicher. Man weiß nie, auf welche Ideen Julian Vallian kommt.

Drei Tage nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ist es so weit. Ich habe mich bereits von James und Sawyer verabschiedet und ihnen für alles Gedankt. Ich musste James versprechen bald wieder zu kommen, immerhin hat er etwas bei mir gut. Lillian hat er mittlerweile auch ganz liebgewonnen und eingesehen, dass sie nicht mit den Karakovs verwandt ist. Er bedankte sich bei mir für den Gürtel, den sie meines Wissens schon das ein oder andere Mal benutzt habe. Mir war natürlich von Anfang an klar, dass er ihn nicht nur tragen wird, sondern seine Sexpartnerinnen damit gern mal am Bett fesselt. Ob die Kleine, die für ihn an der Stange getanzt hat, Sawyers und sein nächstes Mädchen ist? Wie war ihr Name noch gleich? Jane?
Wie auch immer. Eine Umarmung mit Lillian war sogar drin. Sawyer hingegen hatte ihr nur von der Ferne alles Gute gewünscht. Er war nicht so der Umarmungs-Kuschel-Typ. Die beiden gehören zu meinen besten Freunden, und ich freue mich bereits auf das nächste Wiedersehen mit ihnen.

Mittags fährt der Zug in Richtung Norden ab. Wir sitzen in einem privaten Abteil, Lillian hat es sich am Fenster gemütlich gemacht. Kyle und ich reden, bis sie irgendwann einschläft. Da nur wir drei hier sind, kann ich ungestört mit meinem besten Freund sprechen.
»Zuhause ist also die Kacke noch am Dampfen, hm?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Kyle, der eine Weile aus dem Fenster starrt, nickt abwesend. »Ja, Julian gibt keine Ruhe. Er wird erst aufhören, wenn er den Mörder seines Sohnes gefunden hat.«
»Aber den wird er nicht finden«, wiederhole ich die Worte, die ich vor Wochen bereits zu meinem Vater gesagt habe. Julian hat kein Anrecht darauf zu erfahren, wer es war, der seinem Sohn den Wind aus den Segeln genommen hat. Nicht, nachdem einer von ihnen meinen Onkel tötete. Julian ist ein verdammter Heuchler. Einer mit einem mickrigen Ego und einem noch winzigeren Schwanz.
»Wenn wir zurück sind, müssen wir die Sache in die Hand nehmen und einen gezielten Angriff wagen, um den endlich ein Ende zu bereiten. Vor ein paar Wochen fand ich den Vorschlag ihn umzubringen blöd, aber nun stehe ich voll dahinter«, sage ich. Julians Zeit ist abgelaufen. Ich habe gehofft, dass es passiert, wenn ich nicht da bin, aber der alte Hund ist zäh und vielleicht muss ich derjenige sein, der es tut. Weil ich etwas weiß, was die, die er zuvor gefangen genommen hatte, nicht wissen.
Apropos gefangen - bei dem Thema kommt mit Marco in den Sinn. »Wie geht es Marco überhaupt? Was hat Bernardino gesagt?« Ich nehme an, ihm geht es schon besser, sonst wäre Kyle kaum hier. Und Bernardino ist ein guter Arzt, er weiß, was er tut. Noch vor meiner Reise nach London hat er mir die Fäden von meinem Streifschuss gezogen und mir versprochen, gut auf Marco achtzugeben.
Kyle wendet sein Gesicht endlich in meine Richtung und schiebt seine Hände in die Taschen seiner Kapuzenjacke. »Jeden Tag ein bisschen besser. Körperlich zumindest. Er hat mir erzählt, was sie mit ihm gemacht haben, und ich habe gesehen, wie sehr es ihn bedrückt«, erzählt Kyle leise und kann dabei die Trauer in seiner Stimme noch verbergen. Ich verstehe das. Marco ist auch ein guter Freund von mir. »Er schafft das schon«, rede ich Kyle gut zu, da ich glaube, dass er es im Moment mehr braucht. Die beiden haben eine besondere Verbindung, dass sehe ich schon seit einer gewissen Zeit zwischen ihnen. Kyle mag ihn, auch wenn er das nie zugeben würde. »Ich weiß«, seufzt der Schotte gekränkt und wendet sein Gesicht wieder ab. Er kann mir nicht in die Augen schauen, wieso auch immer. Ich erhebe mich, klopfe ihm auf die Schulter und stoße alle Luft aus meinen Lungen. »Schreib ihm doch mal, ich besorge uns in der Zeit einen Kaffee«, rate ich ihm. Kyle nickt. »Passt du kurz auf Lillian auf?«
»Klar.«
Ich bin nicht blöd und sehe genau, was da läuft. Marco und er, die sind nicht so wie Kyle und ich. Kyle und ich sind beste Freunde, Marco und er sind ... mehr. Jeder blinde sieht das, außer die beiden. Sie wollen es sich nicht eingestehen. Zumindest noch nicht.

~

Endlose vergehen, ehe wir schottische Luft schnuppern. Der Mond steht bereits hoch am Himmel als wir den kalten Bahnhof in Edinburgh verlassen und in den zwei Geländewagen, die James und Sawyer uns besorgt haben, weiter nördlich, tiefer in die Highlands fahren. In der Stadt sammeln wir uns kurz etwas zum Abendessen aus einem Drive-In Schalter eines Fast Food Restaurants zusammen, bevor wir die besprochene Route antreten. Es wird früh morgens sein, ehe wir ankommen werden. Kyle fährt, da er den Weg am besten kennt, auf dem Beifahrersitz befindet sich einer der Bodyguards. Lillian hat es sich links neben mir auf dem Rücksitz breitgemacht und verspeist hungrig ihren Burger. Es ist schön sie wieder so zu sehen. Sie ist zwar immer noch nicht die alte, aber ist auf dem besten Weg dorthin. Die kalte schottische Luft vom Bahnhof hat ihre Wangen rosig verfärbt und nun vertreibt die Heizung des Jeeps ihr Zittern. Leise Musik spielt im Radio, der fast niemand von uns seine Aufmerksamkeit schenkt. Ich reiche Lillian einen Becher Cola, den sie lächelnd entgegennimmt und einen großen Schluck trinkt. »Gehts dir gut soweit?«, frage ich sie leise, ohne dass die anderen es mitbekommen. Sie nickt mit vollem Mund und lehnt sich im Sitz zurück. Zufrieden vertilge ich das letzte Stück meines Abendessens und knülle das Papier in meinen Händen zusammen, um es in die Tüte zu werfen. Im ganzen Wagen riecht es nach Pommes und Burger, gepaart mit der hügeligen Landschaft und Radiomusik ein Bild, dass ich nicht oft erlebe. Es vergehen Minuten, Stunden. Kyle steuert den Wagen immer tiefer in die Highlands und die Straßen werden immer leerer. Die Scheinwerfer erhellen den Asphalt als einzige Lichtquelle neben dem Mond, und es muss mittlerweile ein Uhr nachts sein.
Lillian schiebt ihr Telefon in den Schlitz in der Tür und reibt sich fröstelnd die Arme, obwohl es warm im inneren des Autos ist. Ein Geistesblitz zuckt mir durch meine Gedanken. Es sind die Tabletten, die sie nimmt.
»Komm schon her«, wispere ich und öffne meine Arme für sie. Die kleine Frostbeule lässt sich das nicht zweimal sagen und rutscht näher. Sie kehrt dem Vordersitz den Rücken, legt die Beine auf die Sitze und lehnt sich gegen meine Brust. Ich schlinge meine Arme um sie, gebe ihr so etwas halt und werfe mit der einen Hand meine dicke Jacke über ihren Körper. Ihr warmer Atem gegen mein Shirt lässt mein Herz wehmütig schlagen. Ich stütze meine Wange auf ihren Haarschopf, schließe ebenfalls müde meine Augen. Einen Moment gönne ich mir, bevor ich sie wieder öffne und aus dem Fenster in die Dunkelheit schaue. Ihre Hand legt sich an mein Shirt, sie murmelt etwas, dass im Rauschen der Autofahrt untergeht. Ich bin mir sicher, dass sie hört, wie mein Herz in meiner Brust schlägt. Abdriftend starre ich durch die Fenster, Stunden vergehen, bis der auftretende Schnee den Mond reflektiert und mir zeigt, dass wir bald da sind. Lillian wacht nicht nochmal auf, und ich wage es nicht sie zu wecken. Sie braucht den Schlaf, das sehe ich ihr an. Hoffentlich verdaut sie das, was nach unserer Ankunft passieren wird, dann besser.

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now