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LILLIAN

Frisch geduscht und warm angezogen hat mich Santino zu einem Spaziergang aufgefordert. Dafür hat er mir sogar einen seiner Pullover geliehen, da mir trotz dickem Langarmshirt und Mantel noch kalt war. Mütze und Schal hat mir Erin geliehen. Ich bin dankbar für die Ruhe die hier draußen herrscht. Meine roten Wangen sind kalt, mein Atem steigt rauchend in die Winterluft auf und meine behandschuhten Hände stecken in meinen Jackentaschen. Santino und ich sind schon ein ganzes Stück vom Castle fortgelaufen. Durch den Park kamen wir auf einen privaten Waldweg, da die vielen Bäume wohl auch noch zum Castle gehören. Wir stapfen durch den Schnee bergauf, und ich hoffe das der Italiener eine Ahnung hat, wohin wir gehen. Im Hintergrund wird das Castle und die Gästehäuser immer kleiner, nur dessen rauchende Schornsteine sieht man noch zwischen den Kronen der Nadelbäume hervorblitzen.
»Über was wolltest du mit mir sprechen?«, frage ich und richte mir meine Bommelmütze auf dem Kopf zurecht. Sie verrutscht immer wieder. Der große dunkelhaarige betrachtet mich ein paar Sekunden von der Seite, bevor er seine Augen zurück auf den Weg vor uns richtet. »Es geht um New York«, erklärt er und ich ahne bereits, was er damit sagen will. Er muss zurück, was bedeutet dass ich das auch muss. Dabei habe ich meine Familie gerade erst kennengelernt...
»Verstehe schon«, seufze ich und er schaut mich beim laufen von der Seite an. »Es ist nicht so, dass ich genau jetzt zurück will, aber mein Vater braucht mich.«
»Du musst dich nicht rechtfertigen, Santino. Du hast mir geholfen und ich habe was ich wollte, nämlich meine biologische Familie kennengelernt. Nun ist es Zeit, dass wir wieder fliegen. Dass verstehe ich schon.«
»Trotzdem tut es mir leid für dich, du kennst ihn erst seit zwei Tagen und würdest sicher gerne länger bleiben.«
»Nein wirklich, es ist okay. Ich glaube der Abstand könnte Fergus und mir guttun, damit wir die Sache ein bisschen verdauen können, bevor wir uns Wiedersehen«, meine ich und schiele kurz zu ihm auf. Seine Augen liegen auf mir, als würde er versuchen herauszufinden, ob ich die Wahrheit sage oder es nur eine Lüge ist, damit er kein schlechtes Gewissen bekommt. Mit einem ehrlichen Lächeln untermauere ich meine Worte von gerade eben. Santino hält auf einer Anhöhe inne und stellt sich vor mich. »Der Flug geht morgen Abend, länger kann ich es nicht herauszögern«, seine Worte klingen wie eine Entschuldigung. »Okay, dann haben wir ja noch genug Zeit. Vielleicht kann ich schon bald wieder nach Schottland, oder Fergus besucht mich bei meinen Eltern, den Jones«, grüble ich und Santinos steinharte Züge werden weicher. »Tut mir leid, dass du Thanksgiving verpasst hast, ich weiß, dass du bei deinen Eltern feiern wolltest und-«
»Woher weist du das?«, schneide ich dazwischen und runzle meine Stirn. »Dein Telefon hat eine Nachricht von deiner Mom angezeigt, als du im Krankenhaus warst. Sie hat gefragt, ob du es noch schaffst«, erklärt er und ich lasse meine Schultern hängen. Wegen dem fühle ich mich seit Tagen schlecht. Sie hatte so gehofft, dass ich vorbeikomme. Ich habe sie enttäuscht...
»Sie wird nicht sehr lange sauer sein«, merke ich allerdings an, »zu Weihnachten sehe ich sie ja eh.«
Santino nickt und wendet sein Gesicht ab. Neugierig folge ich seinem Blick und entdecke erst jetzt, dass die Anhöhe auf der wir stehen einen perfekten Blick auf das Castle und den Loch Ness freigibt. Berge, Wasser, Schnee. Es ist ein Märchenwunderland, dass uns beiden den Atem raubt.

Eine Weile später sitzen wir nebeneinander auf einer Holzbank, die wir zuvor vom Schnee befreien mussten. Hier oben ist es still und friedlich, ein recht angenehmes Gefühl. Kein Verkehrslärm, keine Touristen, nur wir. Es ist so anders als New York und merkwürdiger Weise, finde ich die Landschaft recht attraktiv. Es hat etwas, hier zu wohnen.
»Wie geht es dir mit der Tatsache, dass deine Eltern schon Tod sind?«, durchbricht Santino die Stille die zwischen uns entstanden ist. Unser Atem steigt rauchend in die Luft auf und ich vergrabe meine rote Nase im Kragen meiner dicken Winterjacke. »Es ist schade, dass ich sie nie kennenlernen werde«, gestehe ich und muss unweigerlich an die Kette denken, die ich Santino damals als Beweisstück gegeben habe. Es muss die meiner Mutter gewesen sein. Man hatte sie mir ums Handgelenk gewickelt wie ein Armband, und die Jones hatten sie nach meiner Adoption immer für mich aufbewahrt. Dafür bin ich den beiden sehr dankbar. Ich hatte eine wundervolle Kindheit, sie werden für mich immer meine Eltern sein, aber zu wissen dass meine biologischen bereits unter der Erde liegen, stützt mich in ein tiefes Loch. Ich habe all die ihre gehofft sie in die Arme schließen zu können. Einstig Fergus lindert meinen Schmerz. Ich weiß nun, dass ich nicht allein bin, und dass ist schön. Er, Ewan, der Rest von seiner Familie. Wir werden für immer miteinander verbunden sein.

»Fergus ist sehr aufmerksam und ich glaube, dass wir uns gut verstehen werden«, spreche ich weiter und muss bei seinen Worten von vorhin schmunzeln. »Er hat sich sogar sorgen gemacht, weil ich ihm erzählt habe, wie wir uns kennengelernt haben«, merke ich an und Santinos Brauen schnellen in die Höhe. »Ach ja? Wollte er mir etwa eine reinhauen?«, mutmaßt er. »So in etwa«, gestehe ich und Santino stößt einen belustigten Ton aus. Kopfschüttelnd legt er seinen Arm um meine Schultern und zieht mich enger an sich, die Augen in die Ferne gerichtet. »Deine Familie hat sehr viel Temperament, scheint es mir«, murmelt er monoton und ich lehne mich gegen seine Schulter. »Ist das falsch? Deine doch auch.«
»Ist es nicht, es ist gut das es ihm nicht egal ist, aber...« Er stoppt sich selbst und schüttelt seinen Kopf. »Was?«, frage ich neugierig und gebe ihm mit dem Ellenbogen einen Hieb in die Seite. »Ich hätte damals eh nicht abgedrückt«, gesteht er und überrascht mich wahrlich. Mit großen Augen schaue ich ihn an wie ein Kind, dem er gerade ein Spielzeug versprochen hat. »Aber du sagtest-«
»Sagen kann man viel, mia bella. Tun ist eine andere Sache. Glaubst du ehrlich, das ich noch mehr Leichen in der Nacht riskiert hätte? Eine hat gereicht«, schnauft er und ich verdrehe meine Augen. »Wow, sollte ich mich geehrt fühlen?«
»Tust du das nicht bereits?«
Er bricht in Gelächter aus als er meinen Blick sieht. Mit fest aufeinander gepressten Lippen knaufe ich ihm in die Seite und stoße ihn mit voller Wucht von der Bank in den großen Haufen Schnee gleich daneben. Er stößt einen überraschten Schrei aus, landet Frontal im eisigen Schnee und schaut mich verdutzt an. »Dannazione!«, flucht er während ich lauthals lachen muss, »findest du das etwa lustig?«, blafft er bedient und rafft sich fluchend auf. Lachend schlage ich mir die Hände vor den Mund und schüttle meinen Kopf. »Natürlich nicht«, kichere ich und werde sogleich von ihm gepackt.

Plötzlich trifft ein eiskalter Batzen Schnee mein Gesicht, den Santino mir gegen die Haut reibt. Ich stoße einen Schrei aus und wir fallen diesmal zusammen von der Bank in den hohen Schnee. Wir kommen dumpf auf und mein Lachen verstummt endlich. Keuchend streiche ich mir das letzte bisschen Schnee von der Nase und blinzle. Ich liege neben Santino, das eine Bein über seinen und mein Körper seitlich. Erschöpft lasse ich meinen Kopf fallen und mein Körper erbebt unter dem nächsten Lachen, dass sich aus meiner Kehle löst. »Ich hasse Winter«, murrt Santino angewidert und ich kann mich nicht mehr halten. Lauthals lege ich den Kopf in den Nacken und lache bis mein Bauch wehtut. Sein griesgrämigen Blick ignoriere ich gekonnt dabei. Es ist zum Brüllen komisch. »Oh Gott das-« die letzten Worte gehen in meinem hysterischen Lachen unter. Gott, so habe ich lang nicht mehr gelacht. Schmerzend halte ich mir meinen Bauch, genau die Stelle an der meine Nähte sind und ermahne mich selbst, mich zu beruhigen. Lächelnd rolle ich mich auf den Rücken und schaue in dem Himmel. Weiße Schneeflocken rieseln sanft auf uns hinab und kitzeln meine eisigen Wangen. Es ist so friedlich und wunderschön. Die Tannen sind schneebedeckt, die Landschaft weiß wohin man schaut. Ich genieße die Ruhe für einen Moment mit geschlossenen Lidern, bis warme Hände meine rosigen Wangen berühren und mich zwingen, die Augen zu öffnen. Santino beugt über mir und schaut auf mich hinab. Er hat seine Handschuhe abgelegt und streicht mir meine Haare von der Stirn. Seine Augen Kundschaften mein Gesicht aus, ohne einen Ton von sich zu geben. Er ist so in Gedanken versunken, dass er nicht reagiert, als ich meine kalte auf seine warme Hand lege. »Wir sollten zurück«, murmelt er plötzlich, »sonst wirst du krank. Komm«, er zieht mich mit einem Schwung auf die Beine und hält mich fest an sich. Ich kann nicht widerstehen und stelle mich auf Zehenspitzen, um seine Lippen zu küssen. Sie sind so kalt, dass ich kurz zurückzucke, bevor ich einen Seufzer ausstoße und einen Schritt auf ihn zu mache. Ich schmelze in seinen Armen wie warmer Kakao mit Marshmallows. Es ist genau dass, was ich jetzt brauche. Ihn. Es ist perfekt.

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now