8

17.3K 414 8
                                    

LILLIAN

Jeden Abend wenn ich zurück in meine Wohnung kehre, erwarten mich die Erinnerungen an das, was in jener Nacht geschehen ist. Ich kann nicht dagegen ankämpfen, im Schlaf erneut zu erleben, was passiert ist. Ich sehe ihn und mich im Badezimmer stehen, wie ich seine Wunde versorge. Sehe uns im Wohnzimmer und im Flur, wie er mir die Kette umlegt und auf mich hinabschaut. Ich kann nichts dagegen tun, egal wie sehr ich mich wehre. Diese Träume rauben mir den Schlaf, da ich immer wieder aufwache und verzweifelt versuche, sie im Keim zu ersticken. Wie bekomme ich den Benelli Mann nur wieder aus meinem Kopf? Es ist verdammt anstrengend, immer nur an ihn zu denken, sei es bei der Arbeit oder zuhause. Es macht mir fertig. Die letzten Tage habe ich gehofft, dass dieses Gefühl nachlassen wird, doch es hört nicht auf meine Brust zu dominieren. Ich bin neugierig. So verdammt neugierig, das ich seine Familie im Internet gesucht habe. So viele Artikel tauchen über die Benellis auf, doch keiner hilft mir weiter. Wer ist er? Wie ist sein Name? Ich sollte nicht so viel herumschnüffeln, aber kann es auch nicht verhindern. Ich würde so gern wissen, wer der Mann in meiner Wohnung war.

Grübelnd spiele ich an dem runden goldenen Anhänger herum, der an der Kette von meinem Hals baumelt. Ich starre aus den Bodentiefen Fenstern des Bürokomplexes, hinab auf die Stadt. Heute Morgen habe ich eine Polizeikontrolle passiert. Sie wollten wissen wer ich bin und wohin ich will. Eine gruselige Angelegenheit, wenn es morgens noch dunkel ist und man ganz allein auf dem Weg zur Arbeit. Das alles nur, wegen den Banden und der Blutfehde, die sich wie eine Spur quer durch die Stadt zieht. Vor drei Tagen lagen zwei Leichen neben dem Hudson. Die Täter hatten sich nicht mal die Mühe gemacht, sie darin zu versenken. Ich musste an dem Tag als ich es erfuhr, unweigerlich an den Benelli Mann denken. Ist dies seine Handschrift gewesen? Vermutlich nicht. Seine Verletzung sollte ihn noch ein paar Tage außer Gefecht setzen. Er hätte die beiden Männer nie mit einem Messer töten können, aber wer dann? Ein anderer aus seinem Clan? Seit mehr als einem Tag ist es verdächtig ruhig bei Nacht geworden. Fast zwei Wochen nach meinen aufeinandertreffen mit dem dunkelhaarigen, ist eine gewisse Ruhe eingekehrt, wenn die Ausgangsperre in Kraft tritt. Doch dies macht mir nur noch mehr Angst, als die Schüsse, die zuvor durch die Nachtluft geschallt sind. Die unheimliche Stille ist furchtbarer. Nie weis man, ob oder wann etwas passiert. Sammeln die Männer sich, um sich auf ihren nächsten Schlag vorzubereiten?

Die Ruhe vor dem Sturm, sagt man so schön. Allein der Gedanken an das, was nach der Stille folgt, lässt mich schütteln vor Kälte. Der eisige Schauer reißt mich aus meinen Gedanken und bringt mich ins hier und jetzt - in mein Büro - zurück.
Vor mir auf dem Tisch liegen Druckfahnen und auf dem Desktop ist eine Datei geöffnet, in der ich das Layout des morgigen Tagesblattes frei verschieben kann. Abgabe ist sechs Uhr Abends, wie üblich, doch heute fällt es mir umso schwerer als sonst, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Meine Gedanken driften ständig ab. Lippenbeißend sinke ich zurück in den Stuhl und rolle ihn näher an den Schreibtisch. Den Ellenbogen stütze ich auf den Tisch, das Gesicht in die Hand. Mit ein paar Mausklicks, stelle ich mir die Artikel des morgigen Tagesblattes so zusammen, wie es gut aussieht. Mein Job ist nicht sehr vielfältig, dennoch genug für mich. Vor der Ausgangssperre saß ich bis spät abends im Büro und tätigte meine Arbeit, meistens über zehn Stunden. Die Arbeit bei der Zeitung verlangt einem viel ab, aber es ist das, was mich glücklich macht. Journalistin wollte ich nie werden, der Job in der Marketingabteilung sprach mich mehr an. Ich vertrete die General auf ihrer Internetseite, sorge dafür stetig Werbedeals mit TV und Radio anzuschließen, kümmere mich um die Präsenz auf Social Media und bin für das Layout der Zeitung zuständig. Wir sind insgesamt zwölf in meinem Team, und es gibt noch drei weitere.

Es dauert zwei Stunden, bis ich alles gesichtet und angeordnet habe. Obwohl es ein Raster gibt, dauert es ewig, alles ansprechend herzurichten. Auf der Titelseite prangt mit schwarzer fetter Schrift: Blutiger Bandenkrieg in NYC - eine Timeline der Geschehnisse. Mir dreht sich der Magen um, als ich an die Drohung des Benelli Mannes denke. Wenn ich etwas ausplaudere, war es das. Ich zweifle nicht daran, dass er tun wird, was er mir drohte. Das will ich nicht riskieren. Nicht meinet- und nicht meiner Eltern willen. Nachdenklich spiele ich mit dem Anhänger des Goldkettchens und greife zu meinem Telefon, links neben dem Bildschirm des Computers. Zwei ungelesene Nachrichten von meiner Mom.
Liebes, kommst du Thanksgiving nachhause?
Ich seufze. Natürlich, Thanksgiving hatte ich bereits vergessen. Mit zuhause, meinen meine Adoptiveltern ihr Haus in New York State. Die beiden leben in der Nähe von Rochester, direkt am Ontario See. Es ist nur ein Katzensprung bis nach Kanada. Ein schlechtes Gefühl überkommt mich, wenn ich an das letzte Novemberwochenende denke. Auf meinem Tisch stapeln sich die Papiere und ich werde einige Nächte im Büro verbringen müssen, um alles abzuarbeiten, wenn ich bis Thanksgiving alles erledigt haben will. Doch meinen Eltern abzusagen, kommt nicht in frage. Wir sehen uns ohnehin nicht oft und ich weiß, das sie sich um mich sorgen, wenn ich allein in New York City bin, gerade in dieser Zeit.
Natürlich Ma, grüß Dad von mir.
Antworte ich mit einem Herzchen dahinter. Ich liebe die beiden, als wären sie meine biologischen Eltern. Die zu finden, wird keine leichte Sache werden. Ich weiß, das meine Eltern das verstehen. Sie sagten mir bevor ich in die Stadt zog, wie sehr sie es sich für mich wünschen würden. Ich hoffe, das ich sie irgendwann kennenlernen werde.

An der Kette spielend lehne ich mich im Sitz zurück und starre grübelnd aus den Bodentiefen Fenstern auf die Stadt. Ich schaffe es nicht, den Benelli Mann aus meinen Gedanken zu vertreiben. Was kann ich nur tun, damit dies geschieht? Ich sollte mit ihm abschließen. Ihm seine Kette zurückgeben und ihn vergessen. Doch wenn ich zu ihm komme, wird er denken, das ich meinen Gefallen einlösen will. Was kann ich nur von einem Mann wie ihm wollen? Richtig, nichts. Ich möchte nicht mit den Benellis und ihren kranken Spielchen in Verbindung gebracht werden. Und dennoch kreisen meine Gedanken pausenlos um ihn. Ausatmend schließe ich meine Faust fest um den goldenen Anhänger der Kette und schließe einen Augenblick lang die Augen.
Ob es ihm schwerfallen würde, meine biologischen Eltern ausfindig zu machen? Sicher wäre es für ihn nur ein Finger schnipsen. Aber kann ich das wirklich verlangen? Und will ich das überhaupt? Er könnte es gegen mich verwenden, doch der Gedanke ist einfach zu verlockend. Es wäre meine Chance,
Ihnen endlich zu begegnen und mir meine Fragen zu beantworten lassen. Ich könnte Frieden mit mir und ihnen schließen, und danach müssten der Benelli Mann und ich uns nie wieder über den Weg laufen. Fakt ist, je länger ich diesen Gefallen aufschiebe, desto mehr muss ich daran denken. Es lenkt mich von meiner Arbeit ab. Ob ich es wirklich riskieren könnte, einen Mann, der schon so viel Schaden angerichtet hat, um diesen Gefallen zu bitten?

Mafia King | 18+Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon