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SANTINO

Ich beobachte durch die Fenster des Wohnzimmers wie Fergus im Schnee neben Lillian kniet und sich mit ihr unterhält. Bei ihrem Anblick gefriert mir das Herz. Ich habe gesehen wie bitterlich sie geweint und geschrien hat, und wäre am liebsten zu ihr hinausgestürmt, um sie in die Arme zu nehmen, aber ich wusste, wie wichtig es nun war, dass sie Fergus' vertrauen gewann. Er ist immerhin ihr Bruder und die beiden haben gerade erst erfahren, dass es den jeweils anderen gibt. Ich muss ihnen Zeit geben, auch wenn mich das fast umbringt. Ich hasse es, sie so kraftlos und am Ende zu sehen, vor allem, weil sie vor kurzem noch im Krankenhaus lag. Sie sollte nicht da draußen im Schnee sitzen und weinen. Sie sollte in meinen Armen liegen, im warmen Haus. Jede Sekunde, die ich ihnen zuschaue, wird für mich unerträglicher. Sie leiden zu sehen, fühlt sich schlimmer als alles andere an, dass ich in den letzten Jahren gespürt habe. Es gleicht dem, was ich fühlte, als meine Mutter starb. Lillian bedeutet mir viel und sie weinen zu sehen, reißt mir das Herz schmerzhaft aus der Brust.
»Hey Mann«, spricht mich Ewan und tritt neben mich. Der etwa gleichgroße Schotte schielt neben mir aus dem Fenster und mustert mich auffällig von der Seite. Ich stehe mit verschränkten Armen zwischen den Vorhängen und starre die beiden an. »Es ist viel zu verdauen für die beiden«, spricht Ewan, »aber ich bin froh, dass Fergus sie nun hat. Er ... ihm ging es nicht gut die letzten Jahre.«
Sein Geständnis überrascht mich nicht, Kyle hatte einmal erwähnt das er abhängig war, aber ich sehe das wie Ewan. Die beiden haben sich, dass hatten sie immer, auch wenn sie es nicht wussten. Vielleicht hätten wir ohne Kyles Wissen nie das Rätsel um ihre Eltern lösen können. Die Antwort war so nah und doch so fern. Was für ein Zufall, dass sie ausgerechnet eine Duncan ist? Meine und ihre Familie sind schon über Jahrzehnte miteinander verknüpft, doch in den letzten Jahren haben wir unsere geschäftlichen Verbindungen etwas schleifen lassen. Vielleicht ist es an der Zeit, sie wieder aufzunehmen.
»Ich mache mir nur Sorgen um sie«, gebe ich zu und kann meine Augen nicht von ihr nehmen. Wie sie dort im Schnee sitzt und Fergus' Hand auf ihrer Schulter liegt. Ich würde sie so gern in den Arm nehmen, aber ich muss ihr Zeit geben.
Ewan lässt wissend seinen Kopf hängen. Kyle hat ihm sicher berichtet, was geschehen ist. »Ich bin sichergegangen, dass alles oben liegt, was ihr brauchen könntet, aber falls doch was fehlt, sag's einfach. Ich ... tut mir leid was passiert ist, entschuldigt er sich mit kehliger Stimme, obwohl er überhaupt nichts dafürkann. »Schon in Ordnung Kumpel. Ich-«, nicht weitersprechend verfolge ich die beiden Geschwister, die durch den Schnee zur Terrassentür stapfen. »Ich gehe erst einmal nach oben mit ihr«, beende ich meinen Satz und laufe auf sie zu. Ewan antwortet mir noch, dann öffnet sich die Tür und ich nehme Lillian in Empfang. »Hey, du bist eisig kalt«, bemerke ich als ich sie berühre und schaue in ihre verweintes Gesicht. Die Augen gerötet, die Wangen geschwollen. »Lass uns nach oben gehen«, schlage ich vor und lege einen Arm um ihre Schultern. Stumm nickend wirft sie Fergus einen knappen Blick über die Schultern zu und lässt sich anschließend von mir nach oben führen.

Im ersten Stockwerk des Castles ist es ruhig und wir finden den Weg zu unserem Zimmer schnell.
Unsere Koffer stehen bereits im Schrank und das Bett sieht einladend aus. Durch die großen Fenster hat man einen perfekten Ausblick auf die verschneite Parkanlage und den Springbrunnen, der selbst bei diesen Temperaturen plätschert, vermutlich damit die Leitungen nicht einfrieren.
Ich schließe die Tür hinter uns und kaum stehe ich vor dem Bett, schlingt Lillian schniefend ihre Arme um meinen Oberkörper. Sie presst ihr Gesicht verzweifelt gegen meine Brust, als hoffte sie, dass sie sich daran verkrümeln könnte. Die Decke fällt ihr von den Schultern und erst jetzt bemerke ich, wie sehr sie zittert. Schwermütig schlinge ich meine Arme um sie und vergrabe mein Gesicht in ihrer braunen Mähne, die so gut nach Shampoo duftet. Ich muss nicht viel sagen, um sie wissen zu lassen, dass ich für sie da bin. Sie weiß es, sie spürt es, sie genießt es. Minuten vergehen, in denen sie in meinen Armen versinkt als wäre ich ihr zuhause. Als könnte ich all die schlechten Energien von ihr abwenden und sie davor bewahren in ihren Gefühlen zu ertrinken. Ich hoffe das ich es kann. Ich hoffe es so sehr.
»Danke, dass du mich hergebracht hast«, nuschelt sie dankbar gegen mein Oberteil und atmet tief ein. Ihr Ohr liegt genau über meinem Herz, vermutlich hört sie wie schnell es wegen ihr pocht. »Es war das einzig richtige, auch wenn ich dir damit so viel Schmerz gegeben habe. Du musst wissen, dass ich das nie wollte«, wispere ich in ihre Haare. Lillian am Boden zu sehen, fühlt sich an, als würde man mir ein spitzes Messer ins Herz rammen.
»Du bist der beste, Santino.«
»Sag das nicht, wenn es nicht stimmt.«
»Das tut es aber«, behauptet sie felsenfest überzeugt und löst sich ein Stück, um Aufsehen zu können. Sie stellt sich auf Zehenspitzen, überwindet die letzten Millimeter zwischen uns, indem sie meinen Kopf am Nacken zu sich hinunter zieht um unsere Lippen tu vereinen. Ich fühle ihre Dankbarkeit auf ihren Lippen, auf ihrer Zunge, in der Art wie sie sich mir entgegenlehnt. Sie will mich, und verdammt, ich will sie auch, aber ihre Gesundheit geht vor. Deshalb schiebe ich sie schweren Herzens von mir und lege meine Finger unter ihr Kinn. »Glaub mir, ich würde es gerne weiterführen, aber du bist noch nicht so weit. Also was hältst du von einer heißen Dusche und dem Bett? Ich könnte nach dem unbequemen Autositz zur Abwechslung ein Schläfchen auf einer Matratze benötigen«, schlage ich vor und strecke mich demonstrierend. Etwas enttäuscht seufzt sie aber stimmt zu. »Okay«, lächelt sie müde. »Lass dir Zeit mia bella.«

Fünfundzwanzig Minuten vergehen, ehe wir beide fertig sind und ich die Bettdecke zurückschlage. Ich helfe ihr sich hinzulegen, da sie damit noch immer Probleme hat, und rolle mich anschließend auf meine Seite. Entspannt dränge ich alle Luft aus meinen Lungen und lasse mir von Lillian eine Bettdecke über den Körper ziehen. Ich drehe mich auf die Seite, lege eine Hand an ihre Wange und streiche ihr behutsam über die Haut, weil ich weiß, dass sie das gerade braucht. »Wenn du über das, was passiert ist reden willst, bin ich da«, hauche ich ihr zu. Sie soll wissen, dass sie mit mir reden kann, wann immer sie will. »Das weiß ich zu schätzen«, gähnt sie müde und meine Mundwinkel Zucken. Ich gönne ihr den Schlaf. Hoffentlich hat sie, wenn sie aufwacht alles ein bisschen sacken gelassen. In den nächsten Tagen können die beiden sich ein bisschen besser kennenlerne und ich glaube, dass die schottische Luft ihr guttun wird. Sie ist nicht so mit Abgasen verpestet wie die in London. Hier oben ist nur die Natur. Vielleicht braucht sie das gerade genau so sehr wie ihren Bruder. Ich freue mich für sie, dass tue ich wirklich. Ihr größer Wunsch ist in Erfüllung gegangen und auch wenn sie ihre Eltern nicht kennenlernen kann, weiß ich, dass sie tief in ihrem Herz weiterleben.

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt