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LILLIAN

Ich liege noch Stunden wach, bevor ich es schaffe einzuschlafen. Der Tag war anstrengend und doch lag ich mehrere Stunden wach im Bett und starrte aus dem Fenster. Die Schüsse auf der Straße erklangen noch weitere zehn Minuten, bis die Polizei ankam und sich die Gangs plötzlich in Luft auflösten. Danach wurde es ruhig. Das wissen, wer da auf meinem Sofa liegt, hat mich unruhig schlafen lassen. Selbst jetzt, unter der Dusche, denke ich an den Verletzten Benelli. Mit den stechenden Augen, markanten Zügen und den lockigen kurzen Haaren, sieht er attraktiv aus, das kann ich nicht leugnen. Die Tattoos auf seinen Armen tragen dazu bei. Ich muss mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, wer er ist. Ein Mann der weder Skrupel noch Gnade kennt. Ich will nicht wissen, wie viel Blut bereits an seinen Händen klebt.

Ob er schon verschwunden ist? Grübelnd steige ich aus der Dusche und wickle meinen Körper in ein flauschig warmes Handtuch. Gekleidet in dem Stück Frottee komme ich vor dem großen Spiegel zum stehen und beginne mich fertig zu machen. Bald muss ich auf Arbeit sein und dort wird mir hoffentlich niemand anmerken, wie stressig die letzte Nacht für mich gewesen ist. Wenn die Polizei das wüsste, würde ich mich für Beihilfe verantworten müssen, weil er in meiner Wohnung übernachtet hat. Niemand darf von diesem Zwischenfall erfahren. Ohnehin werde ich ihn nie wieder sehen. Wir verkehren nicht in den gleichen Kreisen. Er hat mir nicht einmal seinen Vornamen verraten. Ich könnte googeln, aber das traue ich mich aus einem ungewissen Grund nicht. Gott, der Typ macht mich ganz wuschig.

Zehn Minuten später trete ich fertig umgezogen in einem Rock und einer Bluse vor die Tür meines Schlafzimmers. Es ist verdächtig ruhig in meiner Wohnung, aber seine Jacke kullert noch auf dem Boden neben dem Schuhregal herum. Er kann also nicht weit sein. Ob er noch schläft? Nein. Ich luge ins Wohnzimmer hinein und sehe ihn aufrecht auf dem Sofa sitzen. Eine Hand hält seine Verletzte Seite, die andere die Pistole, starrt monoton und eiskalt vor sich hin.
»Komm hinter der Tür vor«, brummt er mich kehlig an und ich trete ertappt nach vorn in den Raum. »Woher-«
»Ich bekomme alles mit«, unterbricht er mich und stiert mir entgegen. Schluckend Falte ich meine Hände hinter dem Rücken und nicke. Will er mich mit seinen Blicken einschüchtern? Falls es so ist, funktioniert es. Ich senke meine Augen auf den Teppich und höre das Blut in meinen Ohren rauschen. »Wo willst du in dem Aufzug hin?«, fragt er mich distanziert und mustert mich. Ich räuspere mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. »Büro.«
Er schnalzt mit der Zunge.
»Du arbeitest also in einem Büro? Hätte ich mir denken können.«
»Was soll dass den heißen?«, schnappe ich beleidigt nach Luft. Seine Stimme ist so abschätzig und abgeklärt gewesen. Verachtend.
»Passt zu jemandem wie dir. Bist du die süße Sekretärin deines bösen Chefs?«, stichelt er mich fies, bringt sogar ein zucken seiner Mundwinkel zustande. Schnaubend verschränke ich meine Arme. Sein Plan ist es, mich auf die Palme zu bringen, und das funktioniert prima. »Ich bin niemandes Sekretärin. Ich arbeite für die General«, sage ich selbstbewusst. Seine vollen Brauen schnellen in die Höhe. »Die Zeitung?«
Ich nicke. Er rümpft die Nase und erhebt sich von meinem Sofa. »Journalistin, super«, schnauft er verächtlich unter schmerzen, »hab ich mir ja die beste ausgesucht. Sag mir, wird irgendwas hier von in einem Artikel landen? Denn wenn du vorhast das zu tun, werde ich es verhindern müssen«, raunt er und zielt mit der Pistole auf mich. Schnell schüttle ich meinen Kopf. Denkt er wirklich, ich bin so dumm?
»Ich bin keine Journalistin, sondern für das Layout und die Marketingabteilung zuständig. Und selbst wenn ich könnte, so dumm bin ich nicht«, gebe ich ihm zu verstehen. Er scheint nicht überzeugt. »Will ich dir schwer raten, mia Bella.«
Der Benelli Sohn rempelt mich im Vorbeigehen an und biegt in den Flur ab. Stöhnend hebt er seine Lederjacke vom Boden auf, aber schafft es nicht sie überzustreifen. Ich drehe mich langsam zu ihm um und beobachte, wie er dabei scheitert seinen Arm zu heben. »Kann ich behilflich sein?«
»Nein«, blafft er schroff und legt sie über seinen Arm. Mit aufeinander gepressten Lippen schaue ich ihm zu. Er flucht leise und schaut an seinem Blutbeflecktem Shirt hinab. »Wenn du einen falschen Handgriff machst dann-«, droht er mir.
»Schon verstanden«, unterbreche ich seinen sauren Tonfall und nähere mich dem muskulösen Gang Mitglied. Seine Waffe ist stets auf mich gerichtet. Es macht mir Angst, weil ich weiß, das er nicht zögern würde abzudrücken. Ich helfe ihm behutsam in die Lederjacke und wage es dabei nicht, ihm in die Augen zu schauen. Mein Herz pocht zu wild und der Kloß in meinem Hals lässt immer weniger Luft in meine Lungen. »Ich werde nichts verraten, versprochen«, versichere ich ihm und schließe seinen Reißverschluss langsam, damit niemand das Blut entdeckt. Der Italiener schweigt.
»Wirst du mich töten?«
»Das wollte ich«, gibt er zu, »aber du hast mir geholfen und dich gütig gezeigt. Hier«, murmelt er und greift in sein Shirt. Hervor zieht er eine goldene Kette mit einem Anhänger aus geklopftem Gold, in dem ein Bild zu sehen ist. Albrecht Dürers betende Hände. Das Zeichen der Benellis. Mein Herz setzt seinen Schlag aus, als er es mir über den Kopf streift und die Kette um meinen Hals legt. Der Mund wird mir staubtrocken. »Ich schulde dir etwas. Wenn du je etwas von mir brauchst, komm nach Little Italy und gehe in das Restaurant mit den roten Wimpeln. Zeig ihnen die Kette, und sie werden dich zu mir bringen, aber denk daran, dass es nur ein Gefallen sein wird, den du hast. Wähle ihn weise, Lillian«, rät er mir und schaut mir einen Moment lang in die Augen. Überwältig schaue ich hinab auf die Kette und drehe den Anhänger in meinen Händen. Als ich aufsehe, ist der Mann verschwunden und die Tür meines Apartments fällt hinter ihm ins Schloss. Ich bin allein, lebe noch. In dieser Sekunde fällt jegliche Anspannung von mir und meine Schultern sacken ab. »Gott«, murmle ich und schließe meine Finger fest um den goldenen Anhänger um meinen Hals. Ich schließe die Augen, atme einen Moment durch, um das Geschehene zu verarbeiten. Ist das alles wirklich passiert? Eins steht fest, meine Eltern dürfen nicht davon erfahren. Dad würde mich vermutlich dazu drängen, wieder bei ihnen einzuziehen. Auch wenn wir nicht das gleiche Blut teilen, die beiden würden alles für mich tun und geben. Sie lieben mich so sehr, wie ich sie liebe.

Den ganzen Weg zur Arbeit denke ich über den gestrigen Tag nach. Es scheint plötzlich so real und nah, wenn man mitten in der Welt der Gewalt steckt. Der Kriminalität und Banden. Zwar habe ich die Nachrichten verfolgt, aber wenn so ein Kerl vor einem steht, flutet einen blanke Panik, wie eine reißende Welle. Wie ein Tsunami.
Auf meinem Telefon habe ich in der U-Bahn einen online Artikel meiner Zeitung gelesen. Die gestrige Nacht hat zwei Opfer auf den Seiten der Vallians und eins auf der Seite der Benellis gefordert. Ohne einen blassen Schimmer über die Materie zu haben, weiß ich, dass die Antwort darauf noch grausamer sein wird. Diese Menschen sind das pure Böse, selbst in einem Körper, der Adonis nahkommt. Dieser Mann in meiner Wohnung ist ein Gangster, vermutlich ein kaltblütiger Mörder. Er wollte mich umbringen, das hat er zugegeben. Ich vertraue ihm genau so wenig, wie er mir vertraut. Die Kette um meinen Hals, heißt nichts. Er schuldet mir etwas, was soll das überhaupt bedeuten? Ich soll nach Little Italy wenn ich etwas von ihm brauche, aber was könnte ich je von einem Mann wie ihm wollen können? Wir leben nicht in den gleichen Welten. Ich will weder Gewalt, noch Mörder in meinem Leben. Nein, ich will nur meine leiblichen Eltern finden.

Mit einer Tasse Kaffee sinke ich tiefer in den Drehstuhl hinter meinem Tisch und kaue einen Moment auf meiner Unterlippe, starre verbissen auf den Browser, den ich soeben geöffnet habe. Sollte ich? Vermutlich ist es eine unkluge Idee, aber meine Neugier lässt meine Finger ganz allein über die Tastatur fliegen. Benelli Clan, tippe ich ein.
Sofort werden mir Abertausende Ergebnisse angezeigt. Diverse Artikel, Wikipedia Einträge und Steckbriefe. Ich klicke mich durch die Zusammenfassung auf der Wikipedia Seite.

Der Benelli Clan, lebt seit 1890 in den Vereinigten Staaten von Amerika.  Ihre Wurzeln sind bis ins achtzehnte Jahrhundert auf der italienischen Insel Sizilien zurückzuführen, wo sie seither als Clan bekannt sind.
In den frühen 1910er Jahren, machten sie ein Vermögen mit dem Brennen von Schnaps und brauen von Alkohol in den Staaten, in denen sie zu dieser Zeit nur einfache Geschäftsleute waren. Während des ersten Weltkriegs und dem nachfolgenden verbot von Alkohol, wuchsen sie in den Staaten zu einer mächtigen Straßengang heran, die stets engen Kontakt zu ihren Vettern in Sizilien hegte. In den kommenden Jahren, wurde die Brutalität stärker und seit den Dreißigern, gehören sie auch in Amerika der Mafia an.
Heute beherrscht der Benelli Clan nicht nur die erfolgreichste Bierbrauerei des Landes, sondern auch Little Italy und den Hafen von New York City. Es werden ihnen Verbindungen zu den mächtigen Schottischen Highland Clans, sowie zu Prominenten und Politikern nachgesagt. Jeglicher Versuch der amerikanischen Behörden, den Schmuggel von Rauschmitteln und anderen illegalen Dingen aufzuhalten, ist kläglich gescheitert. Sie sind brutal, gnadenlos und rachsüchtig und ihre Macht reicht weiter, als man es sich vorstellen kann.

Darunter sind einige Namen aufgelistet. Ich kenne sie nicht, weil ich nichtmal den Namen des Mannes, der gestern in meiner Wohnung war, kenne. Ob er einer von ihnen ist? Ein eiskalter Schauer jagt mir über den Rücken. Ich klicke mich zurück und durchstöbere einige Artikel der letzten Tage. Das Fünkchen, das alles ausgelöst hat, ist der tote Sohn der Vallians gewesen. Ob der dunkelhaarige Benelli ihn getötet hat? Es würde mich brennend interessieren. Diese Blutfehde wird erst enden, wenn der Verantwortliche tot ist. Blut gegen Blut, so heißt es doch bei ihnen, oder? Blutrache. Allein der Gedanke, lässt mein Herz schneller pochen. Wann wird dieser Albtraum ein Ende haben? Ich fühle mich nicht mehr sicher in dieser Stadt, nicht mal mehr in meiner Wohnung. Ich greife unbewusst an den Anhänger um meinen Hals und muss an den Benelli Mann denken. Wenn es dunkel wird, muss ich zuhause sein, sonst schlafe ich im Büro. Ich werde nicht nochmal zulassen, das sowas wie gestern sich wiederholt. Nein, sicher nicht.

Mafia King | 18+Where stories live. Discover now