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LILLIAN

Sightseeing ist normalerweise nichts, was ich mag. Von einem Chauffeur durch die regnerische Innenstadt Londons gefahren zu werden, jedoch schon. Im inneren der Limousine ist es warm und es gibt Getränke, was den Kaffee in meinem Schoß erklärt. Der nette Mann vom Hotel fährt uns durch die Stadt, an der Themse entlang, dann am Big Ben und dem Parlament vorbei. Buckingham Palace, Piccadilly Circus und Union Square. Santino versichert mir, dass ich mir alles von nahen anschauen kann, sobald es nicht mehr regnet. Wir planen eine zweite Tour für übermorgen ein.
Mittags liefert der Chauffeur uns am Hintereingang einer teuren Einkaufspassage ab. Millionenschwere Designerläden reihen sich aneinander, und auf dem Dach des hohen Komplexes gibt es ein schönes Restaurant mit Ausblick über ganz London. Einer der Mitarbeiter begrüßt uns noch vor dem Fahrstuhl und wechselt ein paar Worte mit Santino, während wir hinauffahren. Ich stehe nur still daneben und verfolge die wechselnden Zahlen auf dem Display des Aufzugs. Mitreden kann ich ohnehin nicht. Es geht um irgendwelche Aktien, dann um besondere Weine und so weiter. Ich bin froh, als wir oben ankommen und zu einem Tisch geführt werden.

Im Restaurant ist nicht viel los und die Sitzplätze sind alle sehr abgelegen voneinander, zwischen den Tischen ist eine Menge Abstand und hohe Pflanzen lassen die Plätze wie eine eigne kleine Nische wirken. Melissa, unsere Kellnerin, bringt uns zu Beginn einen sehr teuren Champagner und nimmt anschließend unsere Wünsche auf. Santino bestellt einen italienischen Wein, von dem ich keinen blassen Schimmer habe. Ein Blick auf die Karte genügt, um meinen hungrigen Magen zum Verstummen zu bringen. Die Preise sind überirdisch. Fünfzig Pfund für eine Vorsuppe? Für fünfzig Pfund kann ich dreimal essen gehen.
»Was?«, hakt Santino fragend nach, weil er meinem Gesichtsausdruck bemerkt haben muss. »Nichts«, winke ich ab, doch er hebt nur seine Brauen ungläubig und legt den Kopf schief. Da scheint es bei ihm klick zu machen. Er neigt sich nach vorn, stützt den Unterarm auf dem Tisch ab und schaut mich eindrücklich an. »Wenn du dir nichts bestellst, dann werde ich es tun, mia bella. Glaub mir, ich werde dir jedes Gericht von der Karte bestellen, von dem ich glaube, dass du es gern essen würdest. Entweder du suchst dir etwas Ordentliches aus, oder ich nehme die Sache in die Hand.« Seine Stimme lässt keinen Raum für Widerworte. Vermutlich sollte ich geschmeichelt sein, aber ich fühle mich nur schlecht. »Ich weiß nicht wie ich-«
»Hör auf damit, Lillian. Ich habe dich eingeladen nach London zu fliegen und werde für alles aufkommen, dass wir hier machen. Ich tue das gerne«, beteuert er. »Wieso?«, will ich wissen. Das scheint für mich keinen Sinn zu machen. »Weil du mir geholfen hast als ich in Not war, und das könnte ich nicht mal mit einem Gefallen wieder wettmachen. Akzeptier es doch einfach, dass würde es einfacher für uns beide machen.«
»Es ist mir unangenehm«, wispere ich ehrlich und halte einen Moment inne, als Melissa uns unsere Getränke serviert. Santino mustert mich, und als wir wieder allein sind antwortet er mit leiser Stimme. »Sollte es nicht, mia bella. Du verdienst es. Genieß es die paar Tage, danach kannst du mich verfluchen, wie du willst«, zwinkert er und ein Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. Mag sein das er recht hat. Es spricht nichts dagegen, oder? Ein paar Tage Urlaub, ohne Sorgen und Ängste. Ohne das NYPD im Nacken oder die Briefe der Stadt, in denen sie mir mitteilen, dass Strom und Wasser abgestellt werden, sollte ich meine Schulden nicht begleichen. Ich bin in London, und das fühlt sich an wie ein Traum. Einer, der dank des dunkelhaarigen Italieners wahr geworden ist. Er hebt sein Glas, ich proste gegen seines und nippe skeptisch am Wein. Er ist besser als ich gedacht habe.

~

Santino hat seine Drohung tatsächlich wahrgemacht und mir einen großen Teller Pasta bestellt. Darauf habe ich ihm mit der Schuhspitze gegens Schienbein getreten und er hat mir einen warnenden Blick zugeworfen. Die Grenze ist erreicht. Um ihn nicht noch weiter zu reizen, habe ich es still hingenommen und zugegebener weise, war die Pasta der Hammer. Frisch, tomatig, mit einem Spritzer Zitrone. Es war wie eine Geschmacks Explosion in meinem Mund. Ich bin Santino dankbar, dass er es getan hat. Ich hätte mir nie die Pasta bestellen können, wenn ich den Preis gekannt hätte, dafür hätte ich mich viel zu schlecht gefühlt.
Wir haben beim Essen miteinander geplaudert und er ist mir nach all den Wochen sehr sympathisch geworden, trotz unseres kleinen Streits in seiner Küche vor geraumer Zeit. Er hat etwas an sich, dass mich magisch anzuziehen scheint. Ich mag es, Zeit mit ihm zu verbringen und mit ihm zu lachen. Letzteres tut er viel zu wenig. Er ist stets so ernst und schlechtgelaunt. Auch nach einem Gespräch mit seinem Vater, als wir vom Restaurant hinunter in die Einkaufspassage fahren. Sie sprechen auf Italienisch und Santino presst nur so seine Worte heraus, fuchtelt wild mit der linken Hand in der Luft herum und verdreht die Augen. Das hitzige Gespräch endet, als er auflegt und die Türen des Fahrstuhls sich für uns öffnen.
»Alles in Ordnung?«, frage ich und zwänge mich an den zwei Bodyguards vorbei, um neben ihm zu laufen. Die Männer, die bereits mit uns geflogen sind, begleiten uns wie Wachhunde. Einige die ich nicht kenne, sind dazugekommen. Insgesamt sind es sechs. Sechs Männer, die für Santinos Sicherheit im Kaufhaus zuständig sind, denn ich glaube kaum, dass sie meinetwegen hier sind. Der Italiener steuert zielstrebig auf einen der exquisiten Designerläden zu. »Mhm, alles in bester Ordnung. Mein Vater hat eine schlechte Nacht gehabt. Seit ich weg bin, geht es etwas darunter und drüber in Little Italy«, gesteht er mir. Ich kann an seiner Körpersprache ablesen, dass er das Thema nun nicht weiter anreißen will. Das akzeptiere ich, ohne es zu hinterfragen. Die beiden scheinen keine gute Beziehung zueinander zu haben.

Santino zieht mich an seine Seite, wir übertreten die Schwelle des Ladens und sein Arm schlängelt sich besitzergreifend um meinen Rücken. »Herzlich willkommen«, begrüßt der Türsteher des Ladens uns und drei Angestellte eilen auf uns zu. Überfordert stehe ich neben ihm, während sie ihn fragen, was sie für uns tun können. »Ich bin auf der Suche nach einem Gürtel, es soll ein Geschenk sein. Zeigen sie mir ihre Auswahl«, fordert er, als würde ihm der Laden gehören. Die drei Angestellten tuen sofort, was er sagt, als wären sie seine Untergebenen. Fasziniert blicke ich zu ihm auf und entwische seinem Arm, damit er ihnen folgen kann. »Ich werde mich in der Zeit etwas umsehen«, lächle ich ihm zu und entferne mich, damit er sich in Ruhe beraten lassen kann.
»Darf ich ihnen ein Glas Champagner oder ein anderes Getränk ihrer Wahl anbieten?«, möchte eine schwarzhaarige in engem Etuikleid und Halstuch wissen. Sie erinnert mich ein wenig an eine Flugbegleiterin. »Nein, im Moment nicht, vielen Dank«, lehne ich so höflich wie möglich ab, ohne ihnen auf den Schlips zu treten. Ich fühle mich unglaublich deplatziert und nichts kann das ändern. Ich starre erstaunt an die Wand mit sündhaft teuren Taschen und die Glaskästen mit Uhren und Schmuck. Vermutlich sind sogar die Papiertüten hier teurer, als ich es mir leisten könnte. Schön sind einige Dinge dennoch. Gedankenverloren betrachte ich die Armbänder neben der Sitzecke und spiegle mich im Glaskasten wider. Eines springt mir besonders ins Auge. Das goldene Kettchen wurde einmal verknotet und liegt hübsch drapiert auf einem Kissen. Es ist simpel, aber auch so wunderschön. Leisten könnte ich es mir nie, selbst ohne den Preis zu kennen. Es muss sündhaft teuer sein.
»Gefällt es dir?«
Erschrocken fahre ich herum und halte mir eine Hand übers Herz. »Gott, Santino. Willst du mich umbringen?«, zische ich ihm aufgeregt entgegen und versuche meinen Puls etwas zu normalisieren. Ein amüsierter Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit und er schaut neugierig über meine Schulter auf die Glasvitrine. »Ja, es ist hübsch«, gebe ich mit leiser Stimme zu und wende mich von den Schmuckstücken ab. Etwas hinterher zu schmachten, was ich eh nie besitzen werde, ist sinnlos. Meine Augen fallen auf die orangene Tüte in den Händen eines Bodyguards. »Bist du schon fertig?«, frage ich Santino und dieser nickt. »Ja, lass uns gehen, mia bella«, schlägt er vor und ich habe nichts dagegen einzuwenden. Wir verabschieden uns, verlassen den Laden und fahren mit dem Fahrstuhl hinab in die Tiefgarage. In der Limousine sitzend überschlage ich meine Beine und wippe ungeduldig mit dem Fuß. Wenn ich an morgen denke, wird mir ganz übel. Ob sich etwas in den Akten des St. Smith Hospitals über mich finden lässt? Und falls ja, werden mir diese Infos überhaupt gefallen? Sie mich weiterbringen? Der Wunsch meine Wurzeln zu finden, übermannt mich fast. Ein Ziepen macht sich in meiner Brust breit, das durch nichts gelindert werden könnte. Nur einmal will ich in die Augen meiner Mutter blicken und sie fragen, wieso alles so kam, wie es gekommen ist. Wieso sie mich abgab, und wieso sie nie versucht hatte, wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Die Jones sind meine Eltern und werden es immer bleiben, aber die Frau, die mich geboren hat, hinterließ eine klaffende Wunde in meinem Herzen. Eine die nur sie heilen kann.

»Alles in Ordnung?« Santinos Hand gleitet über meinen Oberschenkel und übt sanft Druck auf meine Haut aus. Seine kurzen Nägel graben sich in meine Jeans und bringt mich dazu, ihn anzuschauen. Sehe ich da tatsächlich so etwas wie Sorge in seinen Onyx farbigen Augen? Die Weise wie seine Stirn sich runzelt und die Lippen sich aufeinanderpressen. Ja, es ist Sorge. Etwas, von dem ich nicht gedacht hätte, es je in seinen Zügen abzulesen. »Ich bin nur etwas abgeschweift mit meinen Gedanken«, umgehe ich seine Frage leise und schiebe meine Hand auf seine. Es bringt mir etwas Ruhe von meinen wirren Gedanken. »Steht heute noch etwas an?«
Santinos Augen Mustern mich einen Moment zweifelnd, nickt jedoch dann. »Ein Abendessen mit James, es wird dir sicher gefallen.«
Ich hoffe nur, dabei hat er recht.

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt