1. Rückkehr

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„Ich hör den Wind, er ruft nach mir. Sein Klang trägt mich nach Haus zu dir..."
Es waren die ersten Zeilen des Songs aus Spirit, die aus meinen Kopfhörern drangen. Seufzend lehnte ich meinen Kopf an die kalte Steinwand hinter mir und streckte die Füße aus. Mit geschlossenen Augen versuchte ich der nervösen Vorfreude irgendwie zu entgehen. Es gelang mir nicht.

„Glut wird zu Feuer und es reißt mich mit. Zu dir komm ich immer zurück..."
Da war die Ironie dieses Songs. Es war Vitos Song. Aktuell. Es passte wie die Faust auf das Auge. Nicht nur, dass der Hengst aus dem Film eine riesige Ähnlichkeit mit meinem Pferd hatte, sondern er kam gerade wieder zu mir zurück. Aber nicht er sang es gerade für mich, er konnte gar nicht singen, sondern ich hörte es nur. Still für mich allein. Seit einer halben Stunde in Dauerschleife.

„Der Weg ist endlos weit, die halbe Ewigkeit. Doch vor mir das Ziel, ist mir nichts zu viel. Ich folge der Sonne, den Wellen im Meer. Ich flieg dir entgegen, denn da komm ich her."
Er war wirklich endlos weit. Aber mit jeder Minute verkürzte sich der Weg. Ich konnte ihn noch nicht spüren, dafür war er noch zu weit entfernt, doch ich wusste, bald war es soweit. Bald fühlte ich seine Präsenz wieder deutlich in meiner Seele. An diesem unbedeutenden Tag Anfang März sollten sie wiederkommen. Meine Arbeitskollegen, die mir gleichzeitig Freunde geworden waren. Zwar war eigentlich geplant, dass wir die erste Zeit nur für die Herstellung des Materials verwenden würden und die Pferde später holen würden, doch Mario hatte bereits ein paar Tiere vorgeschickt. Darunter meine zwei Schützlinge, mit denen ich nun intensiv trainieren durfte. Sie waren noch nicht bereit für die kommende Saison, das wusste ich. Denn nur war Schluss mit dem Azubischutz. Ich hatte eine feste Rolle und sollte vor allem Vito nun regelmäßig in der Show reiten.

„So weit auseinander träumt jeder allein, ich kann's nicht erwarten Zuhause zu sein."
Mhm. Stimmt. Wir waren uns nicht mehr nahe gewesen in der letzten Zeit, auch wenn ich es überraschend gut verkraftet hatte. Vielleicht war ich wirklich ein Stück erwachsener geworden bei Mario. Die einzige Zeit, in der ich jeden Morgen mit tränennassem Gesicht aufgewacht war, waren die Tage nach Vollmond. Vollmond war besonders schlimm gewesen. Ich war allein gewesen, hatte jedes Mal gemerkt, wie sehr ich sie alle vermisste und hatte in den Tagen danach noch viele Stunden allein in meinem Zimmer verbracht, hatte für das Abitur gelernt und hatte meine Schulunterlagen mit Tränen kaputt gemacht. Immerhin hatte ich durch die fehlende Cavalcade es geschafft, ordentlich etwas zu lernen. Die schriftlichen Prüfungen würden in einem Monat beginnen und so hatte ich genug vorgearbeitet, um in den nächsten Wochen nicht viel machen zu müssen. Denn mir war klar, dass ich mich die nächste Zeit ausschließlich im Europapark befinden würde.

„Ich spür dich schon ganz nah, als wärst du ständig da."
Im selben Moment bekam ich eine Gänsehaut am ganzen Körper. Als hätte man genau für uns gesungen, war er plötzlich greifbar. Ich sprang aus meiner sitzenden Position auf und lief zum Tor. Dort, wo sie ankommen würden. Jetzt, wo ich ihn spürte dürfte es maximal noch einige Minuten dauern. Normalerweise. Oder weniger. Ich hatte keine Ahnung, doch er kam bald. Mit jeder Sekunde wurde das Gefühl stärker. Aus einer Ahnung wurde Sicherheit. Aus nervöser Aufregung wurde ungebändigte Vorfreude.

„Und ist es noch so finster, durch dich wird es klar"
Und wie es klar wurde. Als läge über den letzten Monaten ein grauer Schleier. Vor lauter Aufregung lief ich nun auf und ab, knetete meine Finger nervös und starrte immer wieder auf den Beginn der Auffahrt. Bald würden sie um die Ecke biegen, bald. Doch es vergingen noch einige Male, in denen ich jedes Mal dieses Lied wiederholte, daran festhielt, um es nicht zu verpassen. Den Moment festzuhalten, darin zu verweilen und zu genießen. Bald... Nicht mehr lange... Bald.

„Du bist wie die Sonne, so schön wie das Meer. Ich flieg dir entgegen, dem Wind hinterher! Am Ende der Reise, da wartet das Glück... Denn zu dir komm ich immer, immer zurück."
Genau in diesem Moment bogen sie um die Ecke. Ich riss mir die Kopfhörer aus den Ohren, ging rasch zur Seite und warf einen ehrfürchtigen Blick auf den großen, weißen LKW. Im selben Moment drang ein lautes Wiehern aus dem Fahrzeug und kündigte die Anwesenheit meines schönen, goldenen Hengstes an. Unter Tausenden würde ich seine Laute wiedererkennen. Diesen Besonderen Klang, mit dem frechen Unterton und dem gleichzeitig so speziellen Ton, den wahrscheinlich nur ich wahrnehmen konnte. Es war dieser spezielle Ton, der nur mir galt, den er immer hatte, wenn er meinen Namen rief. Ich konnte und wollte diesen Laut nicht beschreiben. Dafür war er zu einzigartig.

Ich lief ihnen hinterher, als sie in den Hof fuhren und schließlich anhielten. Kaum, dass er stand, begann das Poltern. Mein Hengst war genauso unruhig wie ich gerade. Ludo stieg aus der Fahrerkabine, streckte sich zuerst ausgiebig und erblickte mich dann. „Hallo, Hanna! Schön dich zu sehen! Ich habe dich ja fast hier erwartet...", er schmunzelte und kam näher. Wir begrüßten uns auf die alte, französische Art mit den Wangenküsschen. „Marion kommt auch gleich, hoffe ich. Sie ist in ihrem Auto hinterher gefahren. Irgendwo unterwegs haben wir sie abgehängt.", erklärte mein Chef. „Wir? Wer ist denn noch bei dir mitgefahren?", wollte ich wissen und blickte hinter ihn. Ein junger Mann stieg ebenfalls aus. Ich kannte sein Gesicht noch nicht, anscheinend war er neu. „Charles. Es ist seine erste Saison hier, aber er ist schon ganz gut."

Wow. Ich ahnte, wer der neue Frauenschwarm werden würde. Er hatte ein hübsches, weiches Gesicht und schulterlange Haare, die so flauschig aussahen. Moment... Ich hatte ihn bei Mario doch schon einmal gesehen. War das nicht da gewesen, wo ich ihn beinahe nach seinem Shampoo gefragt hatte? An dem Tag, an dem Fred da gewesen war. Bei dem Gedanken unterdrückte ich ein Grinsen.

Ich begrüßte ihn auf dieselbe Art wie Ludo, doch bei ihm war es angenehmer, da er keinen Bart trug. Wahrscheinlich war es genau das, was sein Gesicht so weich wirken ließ. Er wirkte noch so jung und schien das komplette Gegenteil von Ludo. Während unser Boss regelrecht ein Hüne war, gut bemuskelt und groß war, so war Charles eher klein und schmächtig. An seiner Stärke zweifelte ich zwar nicht, doch man sah es ihm auf den ersten Blick nicht an. Charles war sogar kleiner als ich, er hatte vielleicht irgendetwas um 1,60. Etwas mehr sogar.

Jedoch wandte ich kurz darauf meine Aufmerksamkeit sofort zu Ludo, der an der Hängerklappe herum nestelte. Ich beeilte mich, ihm zu helfen. Kurz darauf erkannte ich einige der Tiere. Sechs Stück hatten darin Platz gefunden. Ich erkannte sie nur schemenhaft, doch ich wusste sofort, wo er stand. Seine Anwesenheit war so greifbar nah. Unser Boss betrat den Hänger und ich stellte mich an die Seite, falls es Probleme geben sollte mit dem Abladen. Ich erkannte nicht genau, welches Pferd er zuerst losband, doch ich konnte es mir denken. Unwillkürlich begann ich zu lächeln.

Dann löste sich aus dem Schatten des Hängers zuerst sein Kopf. Seine prachtvolle Mähne war wohl zu einem Zopf zusammengebunden, ich sah nur die gleichmäßigen Stränge eines Bauernzopfes. An der Hand meines Vorgesetzten tänzelte er nervös herum, hüpfte von einem Bein auf das Andere und sah sich suchend um. Ich wusste genau, wen er suchte und machte mich mit einem leisen Pfeifen bemerkbar. Sofort warf er den Kopf herum, seine dunklen Augen erfassten mich innerhalb eines Sekundbruchteils. Er war so viel schöner geworden in der Zeit, in der ich nicht bei ihm gewesen war. Sein hellblondes Winterfell hatte einem kräftigen, satten Gold Platz gemacht und glänzte matt in dem Licht der Nachmittagssonne. Er hatte alles Fohlenhafte an sich verloren und was vor mir stand war nun ein prächtiger Junghengst. Konturen seiner Muskeln zeichneten sich leicht ab und verliehen ihm etwas Majestätisches.

Im selben Moment gab es für ihn kein Halten mehr. Er verlor alle Manieren, die ich ihm je beigebracht hatte, riss sich los und stürmte die Rampe hinunter. Jedoch besann er sich auf dem rutschigen Betonboden, fiel in den Trab und kurz darauf war er bei mir. Stürmisch drückte er seinen Kopf an meinen Bauch, ich schlang meine Arme darum. Eng schmiegte er sich an mich und suchte die vertraute Sicherheit, die ich ihm immer gegeben hatte. Genauso wie er mir die ungebändigte Liebe schenkte, die ich so sehr vermisst hatte. Zufrieden vergrub ich mein Gesicht in seinem Schopf, zog seinen vertrauten Geruch ein und strich mit den Fingerspitzen über sein weiches Fell. Er brummelte leise.

„Ich hab dich vermisst, Kleine.", murmelte er. „Ich dich auch, Großer. Ich dich auch.", gab ich leise zurück.

„Warum wundert mich das jetzt nicht?", hörte ich plötzlich Ludo neben mir jammern und wurde direkt aus meiner Traumblase geworfen. Ich ging einen Schritt nach hinten, um etwas Abstand zu Vito zu gewinnen und sah ihn fragend an. „Was? Darf ich mein geliebtes Pferd nicht begrüßen?" Grinsend nahm ich eben jenen wieder am Strick, um so die Kontrolle über ihn zu zeigen.
„Du übertreibst. Es ist doch nur ein Tier..." Er rieb sich die schmerzenden Hände, an denen rote Striemen erkennbar waren. Vito war wirklich nicht zimperlich gewesen. Böses, böses Pferd.

„Wer ist auf wen zugerannt? Ich auf ihn oder er auf mich?" Schmunzelnd realisierte ich, dass ich gewonnen hatte. Ludo fiel darauf kein weiteres Argument mehr ein, stattdessen ging er in den Hänger und holte das nächste Pferd.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now