22. Mystère

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Ich konnte selbst kaum glauben, wie schnell und weit ich gerannt war. Der Himmel färbte sich am Horizont schon rosarot, als ich die letzten Schritte in die Arena tat. Meine Muskeln brannten wie Feuer und mein Körper hatte die letzten zwei Kilometer nur überstanden, weil ich alle paar Meter eine kurze Pause eingelegt hatte. Zitternd vor Erschöpfung und Kälte stand ich also hier auf dem großen Hof und hoffte, dass niemand da war, der meinen Zusammenbruch sah. Der Mantel von Cernunnos war mir irgendwann von den Schultern gerutscht, als ich gestolpert war. Seit dem spürte ich die Kühle der Nacht intensiver als jemals zuvor. Mein nasses Fell war nicht wirklich getrocknet, da wir, wie üblich in den frühsommerlichen Nächten, eine hohe Luftfeuchtigkeit hatten. Ich ließ mich auf den Boden sinken, der nicht wirklich gesundheitsfördernd war, denn der Stein war ebenfalls kalt. Doch es war mir in dem Moment einfach egal, da ich nur noch schlafen wollte. Ich schloss die Augen und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.

„Hanna? Hanna! Steh auf, du holst dir den Tod!", weckte mich jemand. Die Sonne war längst aufgegangen, das Einzige was noch von meiner Pferdegestalt zeugte, waren meine silbernen Haare. Jemand hatte eine Decke über mich gelegt, vermutlich Ludo, der mich gerade unsanft an den Schultern schüttelte. Müde schlug ich seine Hand weg und rollte mich enger in den dicken Stoff. „Lass mich", brummelte ich. Mein gesamter Körper schmerzte und ich war immer noch unfassbar müde. „Alles in Ordnung?", fragte mein Chef besorgt. „Keine Ahnung", nuschelte ich, schon wieder im Halbschlaf. „Du kannst nicht hier am Boden weiterschlafen, die Anderen kommen bald!", versuchte er weiter mich zum Aufstehen zu überreden. „Mir egal", gab ich zurück. Ganz, ganz dumme Idee, wie ich keine zwei Sekunden später feststellte.

Er fuhr mit den Armen unter mein Körper und hob ich mich kurzerhand hoch. Erschrocken quietschte ich auf, beklagte mich aber nicht. Ludo lachte auf und setzte sich dann in Bewegung. Böser, großer Mann. Vielleicht sollte ich mehr essen, dann konnte er mich nicht mehr so einfach tragen. Er setzte mich erst wieder ab, als wir im Pausenraum waren. Beziehungsweise versuchte er mich abzustellen, jedoch hatte ich nicht die Rechnung mit meinen Oberschenkeln gemacht. Die wollten mein Gewicht nämlich nicht mehr tragen. Sobald ich versuchte zu stehen, fuhr ein stechender Schmerz durch mein gesamtes Bein und sie gaben beide unter mir nach. Fluchend zog ich mich wieder an der Wand hoch und ließ mich in einen Stuhl sinken. Ludo hatte skeptisch beide Augenbrauen hochgezogen. „Was hast du gestern angestellt, als du davon gerannt bist?" „Nichts! Kann nur sein, dass ich etwas zu viel gerannt bin", gab ich zerknirscht zu. Ich schlug die Decke zur Seite, um meine Oberschenkel zu betrachten, die gestern wohl die meiste Arbeit vollführt hatten. Mein linkes Bein sah von außen aus wie immer, das Rechte dafür umso schlimmer. Es war fast komplett blau angelaufen und als ich es probeweise bewegen wollte, weigerte es sich mit einem ekelhaften Schmerz gegen meinen Befehl. „Mist", kommentierte ich trocken die Aussicht. „Wie viel bist du gerannt?", hörte ich meinen Chef beinahe tadelnd fragen. „Keine Ahnung. Ich habe auf jeden Fall die gesamte Nacht gebraucht, um wieder zurückzulaufen! Irgendwo auf Höhe Achern, schätze ich. Ich habe wirklich keine Ahnung", antwortete ich und wickelte mich wieder in die Decke ein. „Das sind etwas weniger als 60 Kilometer Luftlinie!", stieß Ludo entsetzt hervor. Ich zuckte mit den Schultern. „Das kommt hin. Wenn ich eine Stunde mit Höchstgeschwindigkeit gerannt bin... Und das bin ich auf jeden Fall"

„Das ist nicht dein Ernst?!", fragte er sichtlich bestürzt. Doch ich nickte. „Du hast ja keine Ahnung, wie sich das angefühlt hat. Dort, in der Arena" „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Aber so wie dein Bein aussieht, hättest du dich gar nicht mehr bewegen können. Mit Muskelfaserrissen ist nicht zu scherzen" Er seufzte und setzte sich mir dann gegenüber. „Ich war auf Adrenalin. Und mir tut immer noch alles weh. Ich spüre meinen Körper kaum! Vielleicht hat mich das heute Morgen angetrieben..." „Was mache ich jetzt bloß mit dir? Die Proben für Kaltenberg beginnen bald, bis dahin musst du wieder auf den Beinen sein! Und wir haben immer noch Personalmangel..." Ludo klang nachdenklich. Er begann mit den Fingern auf die Armlehne des weißen Plastikstuhls zu trommeln und sah aus dem Fenster. „Mach dir um mich keine Sorge. Meine Verletzungen heilen schnell", beruhigte ich ihn. Zweifelnd hob er die Augenbrauen und stand dann nachdenklich wieder auf. Er ging zu dem Vogelkäfig, der in der Ecke stand und betrachtete seine Krähe. Ich beobachtete meinen Chef oft dabei, wie er so tat, als wäre sie furchtbar spannend. Dabei wusste ich, dass er nachdachte. Er stand dann immer verschränkten Armen und gerunzelter Stirn vor dem Käfig. Manchmal, wenn er sich unbeobachtete fühlte, redete er auch mit dem Tier.

Er griff nach dem Futter und fütterte dem Vogel einige Brocken aus der Hand. „Wir sehen mal weiter. Wenn es sich bis Morgen nicht deutlich gebessert hat, schicke ich dich zum Arzt. Normalerweise würde ich dich umgehend ins Krankenhaus einliefern, aber angesichts der Tatsache, dass du kein normaler Mensch bist, lasse ich das besser sein. Lass dich von jemanden nach Hause fahren, du bist für heute freigestellt", fällte er sein Urteil und drehte sich wieder zu mir um. „Kannst du laufen?", fügte er noch fragend hinzu, als ich mich schwerfällig erhob. „Wird schon gehen", murmelte ich und humpelte langsam aus dem Pausenraum. Ich spürte seine Blicke im Rücken, als ich das Gebäude verließ und nach jemand Ausschau hielt, den man für einige Zeit entbehren konnte.

Am nächsten Tag war meine Verletzung wirklich deutlich besser geworden. Ich hatte mich aber diesmal auch wirklich geschont und meine gesamte Kraft auf die Heilung meines Muskels fokussiert. Sie war noch nicht ganz weg, aber ich war wieder einsatzbereit. Noch nicht vollständig, aber ich könnte immerhin meine Pferde bewegen und danach wieder gehen. Immer noch humpelnd betrat ich am nächsten Tag nach der Schule, die inzwischen mehr sinnlos als sinnvoll war, also die Arena. Nach dem Abitur hatten wir jetzt nicht mehr viel zu tun und es würden sowieso bald die Ferien für uns anfangen. Bezüglich meines Abiturs hatte ich ein furchtbar schlechtes Gefühl, aber es war allein meine Schuld, das war mir bewusst. Immerhin hatte ich einen sicheren Job bei Mario, es würde schon alles gut gehen.

Es war ruhig hinter der Arena, denn ich war mitten in der Mittagspause angekommen. Zumindest für die Anderen. Ich selbst machte heute davon keinen Gebrauch, da ich nur meine Pferde bewegen wollte. Da mir das Laufen auf Dauer immer noch schwerfiel, richtete ich Nevado für einen kleinen Ausritt. Als ich ihm die Trense über die Ohren zog, dachte ich etwas wehmütig daran, dass ich bei Vito einfach aufgestiegen und losgeritten wäre. Gleichzeitig fiel mir auf, wie wenig das noch schmerzte. Vito war weit in den Hintergrund meiner Gedanken gerutscht und es schien fast, als wäre die Wunde, die er aufgerissen hatte, etwas geheilt. Sie war nicht weg, nein. Aber über das frische Blut hatte sich ein dicker Schorf gebildet, der erste Grad des Heilungsprozesses und langsam begann sie zu schrumpfen. Eine Narbe würde immer bleiben, das war mir klar, aber ich war froh, dass ich momentan mit ihm soweit abschließen konnte. Ob ich je wieder glücklich werden würde ohne ihn? Ich hatte keine Ahnung.

Nevado tat mir den Gefallen und blieb ruhig neben der Bank stehen, die ich zum Aufsteigen nutzte. Normalerweise tänzelte er schon dabei herum, doch heute schien er zu spüren, dass ich mich nicht so bewegen konnte wie immer und respektierte es. „Wo geht es hin?", fragte er neugierig. „Einfach ein Stück in den Wald hinein. Wenn dein Rücken schmerzt, sag rechtzeitig Bescheid, dann kehren wir wieder um", sagte ich und ließ ihm am langen Zügel loslaufen. Ich ritt ihn nur mit einem Pad, damit ich meine Beine hängen lassen konnte und sie nicht belasten musste.

Der Schimmel war erstaunlich ruhig heute. Er sprach nicht viel und ging auch gleichmäßig seinen Weg entlang. Vermutlich übertrug sich meine Stimmung auf ihn und die war bekanntlich schon länger nicht mehr auf einem Hochpunkt. Mir spukte immer noch im Kopf herum, was in der Nachtarena passiert war. Und trotzdem saß ich jetzt wieder auf dem Pferd, ließ mich tragen. „Hast du eigentlich etwas dagegen, wenn ich dich reite?", fragte ich irgendwann und legte müde meinen Oberkörper auf seinen Hals. „Wieso sollte ich?", antwortete er überrascht. „Fühlt es sich nicht merkwürdig an, Menschen immer durch die Gegend tragen zu müssen, gefangen zu sein in einer Box und wie ein Sklave für den Reiter zu sein? Der das machen muss, was der Mensch will?", äußerte ich nachdenklich und kraulte seine weiße Brust.

„Ich verstehe deine Frage nicht so ganz. Ich kenne es nicht anders, für mich ist es eine Ehre, dich tragen zu dürfen. Außerdem vertraust du mir, warum sollte ich dann nicht dir vertrauen? Du wirst wissen, was richtig ist und wenn du es für richtig hältst, muss es doch auch so sein...", erwiderte er ein wenig durcheinander. Ich grummelte etwas unverständliches, die Antwort war mir nicht ausreichend. Doch ich wusste, dass ich bei Nevado nichts Bestimmteres hören würde. In diesem einen Moment vermisste ich wirklich, mit Vito reden zu können. Der Falbe hätte sicherlich eine wunderbare Antwort gehabt. „Ist auch egal", flüsterte ich und richtete mich wieder auf. „Lust auf eine Runde Galopp?", wechselte ich das Thema und fasste die Zügel etwas kürzer, damit er nicht zu schnell wurde. „Natürlich!", rief er und spitzte seine Ohren. Zum ersten Mal an diesem Tag entlockte er mir ein kleines Lächeln. „Dann wollen wir mal", sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm und gab die Galopphilfen. Er sprang sofort los und ich ließ ihn laufen. Beugte mich nach vorne, um kein Widerstand für den Wind zu sein.

Wenigstens konnte ich so für einen Moment der Welt entfliehen.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now