14. Ein keltischer Gott

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Schweißgebadet fuhr ich hoch. Mein Herz raste, ich versuchte verzweifelt Sauerstoff in meine Lungen nachzupumpen, die auf Hochtouren arbeiteten, um mit dem Adrenalinpegel klarzukommen. Ich sah mich um, die dünne Scheibe des abnehmenden Mondes schien durch mein Fenster auf mein Bett. Ansonsten war es dunkel. Und still. Kein Geräusch drang an meine empfindliche Ohren, was mich etwas beunruhigte. Normalerweise hörte ich immer etwas, denn ganz still war die Welt nie. Doch im Moment hörte ich nur meine innere Aufregung, die sich durch ein Rauschen auf meinen Gehörgang auswirkte.

Was zur Hölle war das gewesen? Was wollte mir der Traum sagen? Ich liebte meinen Job, ich liebte die Show, ich liebte es, ein Teil davon zu sein. Warum träumte ich von so etwas? Es war doch alles nicht wahr, was mir gezeigt wurde. Und wieso Freddie Mercury? Verwirrt ließ ich mich zurück in mein Kissen sinken und wälzte mich eine Weile unruhig von einer Seite auf die Andere, im Versuch wieder Schlaf zu finden. Es gelang mir nicht. Also stand ich auf, öffnete das Fenster und ließ etwas frische Luft hinein. Es herrschte immer noch eine Totenstille draußen. Keine Grillen, die zirpten. Selbst die Elz schien stillzustehen, ich hörte nicht ein Plätschern des Flusses. Obwohl sie direkt unter meinem Fenster entlang floss. Nur meine eigenen Schritte klangen über den Boden, als ich mir meinen Wohnungsschlüssel nahm und zurück zum Fenster ging. Ich schwang die Beine über das Fensterbrett und sah nach unten. Es ging nicht tief hinunter. Vielleicht zwei, drei Meter. Mit einem kleinen Stoß schob ich mich vom Fenster weg und landete auf dem aufgeweichten Grund des Flussufers.

Das Wasser stand nicht still, es zog ganz normal seine Bahnen in seinem Bett. Ich tauchte meine Hand in das kühle Nass, es plätscherte leise, doch der Rest des Wassers blieb still. Es war ungewohnt, so viel Ruhe um sich zu haben, auch wenn es mich nicht störte. Und um mir darüber Gedanken zu machen, warum ich auf einmal kaum etwas hörte, war ich zu müde und zu aufgewühlt. Ich krempelte meine Jogginghose hoch, in der ich immer schlief, und watete etwas in den Fluss hinein. Spitze Steine stachen mir in meine nackten Zehen, das kalte Wasser umspülte meine Knöchel. Ein weiterer Schritt in die Richtung der Mitte der Elz ließ die Feuchtigkeit bis zu meinen Waden vordringen. Es war wirklich kühl, doch es half mir, meinen Kopf freizukriegen. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich wahrscheinlich sowieso nicht krank werden würde. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, als ich als Kind im Winter eine furchtbare Angst vor einer Klassenarbeit hatte. Nur in einem T-Shirt und kurzen Hosen lief ich barfuß in den Schnee, blieb eine Weile draußen, bis ich vollkommen durchnässt und unterkühlt war. Mein Ziel war es gewesen, krank zu werden. Es ist mir nicht gelungen. Auch spätere Versuche, Schule auf die Art und Weise zu schwänzen, scheiterten. Frustrierende Angelegenheit, wenn man sich noch so sehr anstrengte und dann doch nicht krank wurde.

Ich ging etwas in die Knie, formte meine Hände zu einer Schale und schaufelte mir damit etwas Wasser ins Gesicht. Die plötzliche Kälte an meiner Haut vertrieb endgültig alle Müdigkeit und wirre Gedanken. Als ich mich versuchte, an den Traum zu erinnern, war er nicht mehr da. Er war von meiner eigenen Festplatte gelöscht. Nicht absichtlich, ich hätte ihn gerne aufgeschrieben, aber ich war auch froh darum. Ich drehte mich um und lief aus dem Fluss hinaus. Tapste barfuß über den Kiesweg zu dem großen Haus zurück. Zurück in meiner Wohnung hatte das offene Fenster seine Pflicht erfüllt und die komplette schlechte Luft aus meinem Zimmer vertrieben. Erleichtert schloss ich es wieder und fand endlich wieder meinen Schlaf.

Der nächste Morgen war kalt und grau. Dicke Wolken hingen über der Region und verbreiteten eine miese Stimmung in der Arena. Es sah so aus, als ob es jeden Moment regnen könnte. Da es das aber nicht tat, würden wir die Show machen müssten. Ludo meinte, dass er schon mehrmals im Platzregen eine Aufführung zum Ende gebracht hatte und deshalb sollte uns das nicht davon abhalten, zu schauspielern. Die Meinungen darüber waren geteilt. Charles zog uns damit auf, indem er meinte, dass wir dann wenigstens mal duschen würden. Julien konterte mit einem trockenen „Kannst ja dein Assassin's Creed T-Shirt auf den Hof legen. Dann würde es auch mal gewaschen werden" Ich schmunzelte. Der brünette Stuntreiter hatte ein Faible für dieses Stück Stoff. Es verging kein Tag, an dem ich es nicht mindestens einmal an ihm sah. Es war weiß und sah dementsprechend schnell verdreckt aus. Meistens dauerte es nicht lange, aber er war dann auch zu faul, sich wieder umzuziehen und lief häufig mit dem dann weiß-gelb-braun gemusterten Shirt umher.

Nach der morgendlichen Besprechung hielt mich Marion auf. Sie hielt einen Zettel in der Hand und diesen mir dann unter die Nase. Mit dem Zeigefinger tippte sie triumphierend darauf. „Ich glaube, den kennst du gut", erklärte sie grinsend und zeigte auf ein Bild eines großen Hirschs. Darunter stand etwas Text, den ich mir noch nicht genauer ansah. „Wer ist das?", fragte ich, ich sah da nur das gemalte Tier. Sie kam etwas näher und senkte die Stimme als sie sprach. „Der Hirsch von der Lichtung. Ich glaube, ich weiß endlich, was er ist", raunte sie. „Er ist Cernunnos, das weiß ich", flüsterte ich zurück. „Eben! Weißt du eigentlich, was Cernunnos ist?" Ich zuckte mit den Schultern. „Der Hirsch von der Lichtung?" „Du Dummerchen! Lies mal den Artikel!", forderte sie mich auf und tippte erneut auf das Blatt. Ich nahm ihr den etwas zerknüllten Zettel aus der Hand und überflog den Text. Als ich fertig war, sah ich wieder hoch. „Und du glaubst wirklich, das ist ein und dieselbe Person?" „Natürlich! Überlege doch mal, es würde alles einen Sinn ergeben. Seine Gestalt, die Tatsache, dass er mit uns reden kann, wie die anderen Tiere auf ihn reagieren, wie die Natur in seiner Nähe aufblüht! Als er im Winter nicht mehr da war, da war da doch nur noch ein karges Plätzchen ohne jegliche Magie!" Marion klang wahrlich begeistert über ihre Entdeckung. Zweifelnd hob ich die Augenbrauen und überflog den Wikipedia Artikel erneut. „... ein keltischer Gott... Gott der Natur, der Tiere oder der Fruchtbarkeit... männliche Gestalt mit Hirschgeweih... meist bärtig... als Jüngling oder als reifer Mann... Herr der Tiere...", las ich die wichtigen Punkte daraus vor, „Das passt aber nicht zu unserem Hirsch auf der Lichtung. Abgesehen von der Tatsache, dass er ein Gott für die Natur ist" Marion verdrehte die Augen. „Du verstehst nicht! Er wird als Mensch mit Geweih dargestellt! Als ein Mischwesen! Und was wissen wir über Mischwesen? Du bist doch ein Mischwesen!" „Ich bin aber kein Zentaur", unterbrach ich sie, doch sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist das einfach eine vereinfachte Darstellung von Gestaltswandlern. Ich denke, dass Cernunnos sehr wohl auch eine Menschengestalt annehmen kann, jedoch tut er es nicht, weil er sich in der Hirschgestalt wohl fühlt. Oder er will seine menschliche Gestalt verstecken, vielleicht kennen wir ihn sogar als normalen Menschen!" Ihre Augen glänzten vor Aufregung, sie wirkte beinahe wie ein kleines Kind an Weihnachten.

Ich legte den Kopf schief. „Prinzipiell könntest du Recht haben. Es passt wirklich. Er ähnelt vom Verhalten sehr einem Gott. Ich weiß nicht, ob du ihn jedes Mal verstehen kannst, wenn er mit mir redet, doch er ist unglaublich weise und kann vom Verstand her eigentlich gar kein normaler Hirsch sein. Er strahlt so viel Macht und Wissen aus..." Meine Freundin nickte. „Übrigens, seiner Beschreibung nach könnte er auch genauso gut ein Schutzpatron für Gestaltswandler sein, was seine Nähe zu dir erklärt. Dein Gott oder so", erläuterte sie mir ihre Gedanken. „Nein, das kann nicht sein. Wir haben Ajax und Arija als Götter, soweit ich weiß... Ich müsste darüber noch einmal Sylvia ausfragen, sie kennt sich besser aus. Meinst du, sie lebt noch?", antwortete ich nachdenklich. „Ich denke schon, aber ich kenne sie nicht. So weit entfernt wohnt sie ja nicht, vielleicht kannst du heute Abend noch zu ihr hinfahren. Und vergiss dann ja nicht, mir davon zu erzählen!" Ich nickte lächelnd. „Natürlich nicht, du bist die einzige, mit der ich darüber überhaupt reden kann und will" Kichernd umarmte sie mich. „Du bist einfach faszinierend! Ich finde das unglaublich spannend!", meinte sie. Ich lachte. „Ich will dich auch nicht missen an Vollmond. Du warst bisher immer die beste Begleitung"

„Was wird hier so getuschelt?", fragte plötzlich jemand lachend. Erschrocken ließ ich Marion los und drehte mich in die Richtung des Störfaktors. Lena stand in der Stallgasse, den Besen in der Hand und schmunzelte. Innerhalb einer Sekunde realisierte Marion, wer da stand und ihr entglitten die Gesichtszüge. „Nicht schon wieder die", stöhnte sie auf und tat dann das einzig Vernünftige. Sie ging.

Ich sah ihr nach, den inzwischen sehr zerknitterten Zettel in der Hand. Bevor Lena einen Blick darauf werfen konnte, sie kam neugierig näher, zerknüllte ich ihn zu einem Ball und schob ihn in die Tasche meiner Trainingsjacke. „Was hat sie denn?", fragte sie verwundert. „Du bist unter ihrem Niveau, aber fleißig dabei sie im Stuntreiten zu überholen. Das kratzt an ihrem Ego", seufzte ich. „Oh, deshalb kann sie mich nicht leiden..." „Mach dir keine Gedanken. Sie hat ein feuriges Temperament, sie kriegt sich schon wieder ein", beruhigte ich sie und wechselte dann das Thema. „Wenn du willst, zeige ich dir noch ein paar einfache Voltige Figuren, die auch bei einem Anfänger gut aussehen" Begeistert nickte Lena. „Klar, das wäre super! Aber lass mich erst noch schnell fertig fegen" „Natürlich", bestätigte ich und machte mich dann auf den Weg, Morendo zu richten. Er war geduldig und bequem, perfekt für Lena.

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Auf dem Bild ist eine Darstellung von Cernunnos zu sehen.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now