35. Ertrinken

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Es war etwa zehn Minuten vor Neun, als ich mit meinem Falben am Zügel über den Asphalt des Hofes lief. Vito ging es nicht gut, dass sah selbst ein Laie. Nicht körperlich, nein, sondern seelisch. Er wirkte vollkommen gebrochen, wie ein verprügelter Hund trottete er hinter mir. Sein Fell hatte etwas an Glanz verloren, seine Augen waren durchgehend halb geschlossen. Er wirkte müde. Genauso wie ich mich fühlte.

Ich hätte aufsteigen können und ihn Schritt reiten können. Ich hätte mich einfach auf seinen Rücken schwingen können. So wie früher. Dennoch tat ich es nicht. Etwas hielt mich davon ab. Was genau es war, wusste ich nicht. Es war Punkt neun Uhr, als ich in der Halle stand. Mario war noch nicht da, wie gewöhnlich eigentlich. Franzosen nahmen es mit der Pünktlichkeit nicht so genau wie wir Deutschen. Also drehte ich noch einige Runden durch die Halle, machte dabei das Radio an, lauschte den Nachrichten, die gerade kamen. Die Grausamkeiten, die die Welt momentan heimsuchten, erreichten mich nicht. Es war ein Hintergrundgedudel. Erst, als der Moderator, das nächste Lied ankündigte, wurde ich aufmerksam.

„Und jetzt führen wir unser Programm mit der erfolgreichsten, deutschen Band fort. Rammstein mit 'der Seemann'!" Die französische Aussprache von Rammstein und Seemann entlockte mir ein schwaches Grinsen, so falsch war sie doch. Es waren beruhigende Gitarrenklänge, die einsetzen. Sie fesselten mich und ließen mich zuhören.

Komm in mein Boot. Ein Sturm kommt auf und es wird Nacht.

Ich erstarrte, Vito tat es ebenfalls, als er spürte, wie meine Aufmerksamkeit abschweifte. Wie versteinert lauschte ich der Musik.

Wo willst du hin? So ganz allein treibst du davon. Wer hält deine Hand, wenn es dich nach unten zieht?

„Worauf wartest du, steig auf", tönte es so plötzlich von Mario, dass ich zusammenzuckte. Mit einem mulmigen Gefühl tat ich wie geheißen. Mein Pferd wagte sich nicht zu rühren. Steif stand er da, wusste nicht, wie er reagieren sollte. Ich wusste es auch nicht. Verkrampf klammerten sich meine Finger um die Zügel, dann schloss ich für einen Moment die Augen, atmete tief durch, versuchte mich zu sammeln. Dann legte ich vorsichtig die Schenkel an, der Falbe lief los. Wobei er deutlich Schwierigkeiten hatte, sich zu koordinieren. Ein Dressurreiter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Auseinandergefallen und alles andere als klar im Takt, lief, nein, eierte er durch die Bahn. Mario reagierte auch so. Er vergrub stöhnend die Hände in Gesicht, ich konnte ihn bis zu meiner Position seufzen hören.

„Jetzt stell dich nicht so an, du kannst doch reiten!", rief er. Ich versuchte, in mein altes Muster zu verfallen, doch ich hatte Angst. In meinem gesamten Leben hatte ich noch nie solche Angst vor einem Tier gehabt, auf dem ich saß. Ich wusste, dass ich absolut keine Kontrolle hatte, wenn er davonrennen würde, würde ich ihn nicht halten können. Das übertrug sich auf ihn. Immer wieder drehte er sich unsicher zu mir um, suchte meinen Blick, versuchte mich zu hören. Ich redete leise mit ihm, versuchte zu erklären, was er machen sollte. Er reagierte nur schwerfällig. Mehr als einmal bog er falsch ab, stolperte als ich ihn versuchte mit den Zügeln in die richtige Richtung zu dirigieren.

„Trab an", befahl mein Meister. Ich gab die Bahnfiguren auf und versuchte sanft anzutraben. Erst beim dritten Versuch reagierte das Pferd. In diesem Moment realisierte ich wieder Rammstein aus dem Radio.

Jetzt stehst du da an der Laterne, hast Tränen im Gesicht. Das Abendlicht verjagt die Schatten. Die Zeit steht still und es wird Herbst.

Laut pochte die Musik in meinem Kopf wieder, hallte nach und hinterließ ein drückendes Gefühl. „Zeig mir den Galopp", lautete die nächste Anweisung. Diesmal brauchte ich fast eine gesamte Runde, um dem Folge zu leisten. Vito unter mir war komplett hilflos, beinahe verzweifelt. Was war sein Problem? Warum konnte er nicht auf die einfachsten Hilfen, die wir damals doch so oft benutzt hatten, reagieren? Warum brauchte er so lange, um zu verstehen? Es hatte doch früher immer geklappt! Langsam, aber sicher wurde ich wütend. Als er wieder nicht verstand, dass er auf den Zirkel abbiegen sollte, riss ich so heftig die Zügel herum, dass es mir bereits im selben Moment leid tat. Der Falbe schmiss sich herum, entzog sich all meiner Hilfen, bäumte sich auf und stellte sich dann mit dem Kopf zur Wand. Er senkte den Kopf und erneut erschien der Vergleich mit einem geprügelten Hund in meinem Kopf. „Es tut mir Leid", flüsterte ich, sodass nur er es hören konnte. Ich strich ihm entschuldigend und beruhigend über den Hals, doch er hatte wieder abgeschalten. Diese Reaktion war mir nicht neu. Es trat dann ein, wenn er vollkommen überfordert war und nicht mehr wusste, was er machen sollte. Wie ein Auto, das abgewürgt wurde. Eine Maschine, die einfach ausgeschalten wurde. Ich sank in mir zusammen, fühlte mich genauso hilflos wie er. Ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte. Und er vermutlich auch nicht.

Moondancer - PferdeträumerDove le storie prendono vita. Scoprilo ora