43. Sam

817 69 20
                                    


Und während ich so dalag, hörte ich die Ankunft eines weiteren Reiters. Das Geräusch von Hufen auf dem Waldboden vermischte sich mit einigen Stimmen, die ich erst nicht auseinanderhalten konnte. Es war mir aber auch egal.

Doch eine männliche Stimme stach besonders hervor. Sie klang kräftig und hatte einen sonderbaren Doppelklang in sich, gleichzeitig hoch und tief. Sie echote ein wenig in meinen Gedanken, sie war so bekannt und doch war sie mir fremd. Wo hatte ich das schon einmal gehört? Hier in Frankreich jedenfalls nicht. Das Stimmengewirr wurde wieder lauter, ich machte mir nicht die Mühe zu verstehen. Ich war müde, ich wollte schlafen. Die Stimmen kamen näher, mehrere Personen schienen sich wohl zu streiten. Dann spürte ich zwei Hände auf meiner Schulter. Und ich hatte ein Déjà-Vu. Wann hatte ich diese Hände zuletzt gespürt?

Sobald aber die Hände immer wärmer wurden und eine vertraute Energie in meinen Körper floss, wusste ich es wieder. Als ich in Pferdegestalt letzten Vollmond davongerannt war. Es fühlte sich an, als wären seitdem Jahre vergangen. Tatsächlich waren es aber keine vier Wochen her. Was war dazwischen alles passiert? Eine Woche danach war doch der Kampf gewesen, oder nicht? Als ich... Sylvain... Ich vertrieb schnell den Gedanken. Und einige Tage später waren wir hierher abgereist. Und das war doch auch erst eine - oder zwei? - Wochen her. Vielleicht regelt die Zeit irgendwann alles. Doch wie soll die Zeit etwas regeln, was noch nicht einmal einen Monat vergangen war?

Jedenfalls erkannt ich meinen Cernunnos wieder. Und bei dem Gedanken an ihn entspannte ich mich automatisch. Er war allmächtig, er konnte alles besiegen. Wie eine Decke hüllte mich seine Präsenz ein und nahm eine tonnenschwere Last von meinen Schultern, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie existiert hatte. Nur für einen kurzen Moment sah er in meinen Geist, sah das Chaos, war direkt bei meiner Seele, dann ließ er mich schlagartig los. „Holt ihn rein", wies er jemanden an, dann hörte und spürte ich ein Pferd. Meine Augen schmerzten vom vielen Weinen, doch ich erkannte die blonde Färbung sofort. Aber was sollte das bringen? Ich hatte keine Ahnung.

Das Tier kam näher, Vito legte sich neben mich und bettete seinen Kopf auf meinen Bauch. Ich versuchte seinen Geist zu ertasten, doch die bittere Realität schlug wieder zu. Hatte ich wirklich gehofft, ein Besuch von Cernunnos konnte mir helfen? Konnte alles geradebiegen, was passiert war? Ich war so naiv. Ich spürte nichts. Wie immer. Doch wenigstens fühlte ich seinen Körper und somit sein Leben. Ihm ging es gut, ich hatte ihn noch nicht verloren. Vielleicht war irgendwo ein Fünkchen Hoffnung. Irgendwo.

„Ich habe hier keine Macht. Das Einzige, was mir spontan einfällt, ist, die Zwei mitzunehmen und versuchen sie irgendwie auf einen grünen Zweig zu bringen", hörte ich Cernunnos' Stimme. „Und wie lange wird das dauern?" Das war Mario. „Keine Ahnung. Ein Monat? Zwei? Ein halbes Jahr? Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll, um ehrlich zu sein. Sie ist meine Mondtänzerin, ich existiere genauso lange wie sie", antwortete der Gott. Doch es irritierte mich. Er war doch ein Gott, oder nicht? War er nicht allmächtig? Bei diesen komplizierten Zusammenhängen, die keine waren, bekam ich Kopfschmerzen, also dachte ich nicht weiter darüber nach. „Diese Zeit haben wir nicht, das kannst du", begann Mario, doch wurde plötzlich von jemand Anderen unterbrochen. „Du kannst eine Seele nicht magisch heilen, Sam", ertönte es mit einer seltsamen Ruhe von der anderen Seite der Hütte. Sam? Wer zur Hölle war jetzt schon wieder Sam? „Und woher-", setzte Cernunnos - hieß Cernunnos etwa Sam? – an, doch dann stoppte er wieder und senkte die Stimme. „Stimmt. Tut mir Leid", entschuldigte er sich. Eine unangenehme Stille breitete sich aus und ich mobilisierte meine Kräfte, um meine Augen scharfzustellen und um mich etwas aufzurichten. Vito, der immer noch halb auf mir lag, nutzte ich dabei als Stütze.

Das Szenario hätte merkwürdiger nicht sein können. Fred saß in einer Ecke der Hütte, von ihm war der Einwand gekommen. Ludo lehnte am Eingang. Neben ihm standen Mario und ein junger Mann mit schwarzen Haaren, die bis über seine Ohren gingen. Er trug ein schwarzes, kurzärmeliges, mit metallischen Plättchen versehenes Hemd und eine dreiviertel Hose, die über und über mit Schnallen und Reisverschlüssen bedeckt war. Das düstere Outfit komplettierte ein mit Nieten besetztes Halsband. Das war Cernunnos? Der prächtige Hirsch, der eine Gottheit war? Mir fiel die Kinnlade herunter. Jenem schien mein Starren wohl aufgefallen sein, denn er drehte sich um und musste schmunzeln. Sein Teint war sehr bleich, was durch das ganze Schwarz nur verstärkt wurde. Vermutlich sah er nicht so viel Sonne, was bei Nachtaktivität auch kein Wunder war. „DU bist Cernunnos?", brachte ich krächzend hervor. Meine Stimmbänder wollten immer noch nicht. Er kam auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. „Verzeih die Unhöflichkeit, ich wollte dich mit meinem menschlichen Aussehen nicht erschrecken. Wir leben bisweilen auch unter Menschen, daher auch der Name. Cernunnos ist doch ein wenig aus der Mode", erklärte er. „Wir? Es gibt mehrere?", fragte ich. „Natürlich. Für jeden Mondtänzer genau einen"

Moondancer - PferdeträumerOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz