31. Broken

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„Was habt ihr mit Sylvain gemacht?", fragte ich schüchtern. Ich saß auf einem der Plastikstühle, war in mich gekehrt und traute mich kaum etwas zu sagen. Es war früher Nachmittag. Alle Pferde waren wieder auf ihren Beinen, selbst Vito. Behauptete zumindest Ludo beruhigend, der regelmäßig nachsah. Wir hatten zwei Shows zum Wohl der Pferde abgesagt, damit die eine Pause haben konnte, die ich vergangene Nacht umgelegt hatte. Ich hatte seit dem Morgen, an dem ich bei Vito war, nichts mehr gemacht. Seit Stunden saß ich nun schon in dem Aufenthaltsraum, den Kopf gesenkt, auf meine Knie starrend. Die Leere der Voliere, in der die Krähe gewohnt hatte, war erdrückend.

Ludo war wieder hereingekommen. Er sah von Zeit zu Zeit persönlich bei mir vorbei und achtete penibel darauf, dass ständig jemand in meiner Nähe war. Warum er auf einmal so einen Kontrollwahn mir gegenüber entwickelte, verstand ich nicht, aber es war mir auch egal. Es war mir alles egal. „Verbrannt. Mitsamt aller Spuren. Die Decken, die er angezündet hatte, die Utensilien, die wir zum Saubermachen benötigt hatten. Alle Beweise sind vernichtet worden", erklärte er. „Sicher, dass er tot war?", fragte ich weiter. „Sicher. Er hatte weder Puls noch war er warm. Die Leichenstarre hatte ebenfalls schon eingesetzt. Und schließlich sahen wir zu, wie er verbrannte. Mitsamt dem Vogel. Eigentlich schade um das Tier, es war ein netter Vogel", meinte er. „Und was habt ihr den anderen erzählt?" Meine Stimme klang gleichgültig. Tonlos und teilnahmelos. So wie ich mich auch schon den ganzen Tag fühlte. Weggetreten. Kalt von innen heraus. Das Eis tat weh.

Ich konnte inzwischen nicht einmal mehr klar denken. In meinem Kopf formulierten sich nur einfache, langsame Sätze.

„Die halbe Wahrheit. Sylvain wurde kurzerhand zum Tierschänder, der die Pferde vergiftete und den Falben verletzte. Du wolltest dich einmischen, da hat er dich überwältig und beinahe vergewaltigt" Beim letzten Satz hörte ich auf. „Wieso denn das?" „Das erklärt am besten deinen aktuellen Zustand. Nimm es mir nicht übel, aber du siehst so gebrochen und erschöpft aus, dass ich das nicht auf eine Krankheit schieben konnte" Ich realisierte seine Worte nicht. Sie kamen nicht bei mir an, sobald sie mein Ohr erreicht hatten, hatte ich sie schon wieder vergessen. Es interessierte mich nicht, wie ich aussah, was die anderen dachten und was ich machte. Am liebsten wäre ich für immer hier sitzengeblieben. Bis ich alt wurde. Oder bis die unsichtbaren Schmerzen aufhörten. Mir tat alles weh. Und doch irgendwie nicht. Ein seelischer Schmerz.

„Hanna! Hanna! Alles klar? Geht es dir gut?", kam irgendwann ein besorgter Blondschopf in das Zimmer gestürmt. Ehe ich mich wehren konnte, fand ich mich in einer chaotischen Umarmung von Lena wieder. Wie erstarrt saß ich da, spürte ihre Arme, die mich gefangen hielten. Ich machte mich stocksteif und versuchte ruhig zu bleiben. Sie engte mich ein! Panik stieg in mir auf. „Lass mich los", flüsterte ich erstickt und zu meinem Glück tat sie sofort wie geheißen. Als sie mein bleiches Gesicht sah, wurde ihr Gesichtsausdruck nur noch sorgenvoller. „Was ist passiert?", fragte sie nun etwas ruhiger. Auf Deutsch. Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich wollte nicht reden. Denn reden hieß realisieren. Und ich sah das Blut noch immer viel zu deutlich vor meinen Augen. „Weiß nicht mehr", antwortete ich also nuschelnd. Erneut wollte sie Trost spenden, indem sie Körperkontakt aufbaute. Erneut schob ich sie zur Seite. „Nicht anfassen", wies ich sie leise zurecht. Überrascht hob sie die Augenbrauen. Doch dann ließ sie diese wieder sinken, als sie sich erinnerte, was Ludo ihr erzählt hatte. „Tut mir Leid", entschuldigte sie sich. Ich nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. Keiner sollte meinen blutbesudelten Körper anfassen, an dem der Tod haftete.

Es war fast schon Abend, als ich aufstand. Ich musste raus hier. Weg von dem Ort. Vielleicht fand ich meinen Cernunnos. Vielleicht konnte ich ihm alles erzählen. Vielleicht würde er verstehen.

Ich fühlte mich wie ein Zombie. Und wahrscheinlich sah ich auch wie einer aus. Ich wollte mich nicht ansehen. Es wäre das Gesicht eines Mörders, das im Spiegel zurückblicken würde. Langsam machte ich mich also auf den Weg. Lief über den Hof, einfach hinaus in Richtung Wald. Ich hatte noch nicht das Tor erreicht, als ich sich das Geräusch von Hufeisen auf dem Asphalt näherte. Das Pferd holte zu mir auf und blieb dann auf meiner Höhe. „Geh weg", sagte ich. „Wenn dich Ludo geschickt hat, sag ihm, er soll seinen Kontrollzwang irgendwo anders ausleben. Ich komme zurecht". „Das ist kein Kontrollzwang, meine Liebe. Das ist die Anweisung des Meisters. Wir haben ihn informiert und er hat uns nicht einmal ausreden lassen, als er uns schon beinahe anschrie, dass wir sofort nach dir schauen sollten und dich nicht mehr aus den Augen lassen sollen. Du hättest ihn hören sollen, er wirkte total erschrocken und aufgebracht. Seiner Meinung nach schwebst du in Lebensgefahr", redete Marion munter von Capriccios Rücken. Der blonde Hengst missachtete mich und konzentrierte sich auf seine Reiterin. „Was interessiert ihn das? Und warum kommst du überhaupt mit? Ich dachte, du findest es nicht in Ordnung, was mit Lena passiert ist?", wollte ich wissen. „Es tut mir Leid, ja? Ich finde es auch immer noch nicht in Ordnung. Doch du hättest Mario hören sollen! Und verdammt... Hanna! Du warst lange eine viel zu gute Freundin, als dass ich jetzt länger tatenlos zusehen könnte!" Sie hatte sich ein wenig in Rage geredet, doch mir war es egal. Wie alles andere auch.

„Lass mich einfach in Ruhe", murmelte ich also und trotte weiter meinen Weg entlang. „Hanna...", setzte sie erneut an, doch ich unterbrach sie. „Lass mich einfach, Marion. Wirklich. Geh zu Charles. Der steht auf dein Temperament. Ich kann es jetzt nicht gebrauchen!", knurrte ich nun wütend. Ich hörte, wie sie eingeschnappt ausatmete, dann aber ruhig blieb. Mich wunderte, dass sie mir weiterhin nicht von der Seite wich. Dann musste Mario wirklich Druck gemacht haben. Kaum, dass ich den Waldrand betreten hatte, sprang mir schon ein großer Hirsch entgegen. Er nickte meiner ungebetenen Begleiterin zu, die dann endlich kehrt machte und davonrauschte.

Kurz darauf spürte ich seine vertraute Anwesenheit in meinem Geist. „Das hast du gut gemacht", sprach er sanft. Eine Weile sah ich das Tier an, fast ungläubig, dann schüttelte ich den Kopf. „Ich habe gar nichts gemacht. Hätte Marion nicht die Krähe getötet, wäre alles schief gegangen", antworte ich, zum ersten Mal an diesem Tag Gefühle wirklich zulassend, völlig verzweifelt. Ich sank an Ort und Stelle am Boden zusammen, zog die Knie an und umarmte mich selbst. Cernunnos stupste mich vorsichtig mit dem Huf an, dann ging er neben mir in die Knie und legte seinen Kopf an meine Seite. So weit entfernt, dass er nicht berührte, aber so nah, dass es mir gerade noch angenehm war. Er gab mir die Chance, selbst Kontakt zu suchen. „Nein, du hast auch Leben gerettet! Vito wäre tot ohne dich", versuchte er mich weiter aufzumuntern. „Doch es hätte beinahe alle umgebracht! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es sich angefühlt hat, als ich spürte, dass ich ihnen sämtliche Lebensenergie entriss? Ich verstehe bis heute nicht, wie sie überlebt haben konnten!", fuhr ich ihn an. Er zwinkerte. „Jedes Tier hat eine Notreserve, die genau in solchen Fällen schützen soll. Kein einfacher Zauberer kommt an sie heran. Es ist der einzige Schutz, den sie gegen Magier haben, die sich ihre Lebenskraft zunutze machen" Geduldig führte er seine Erklärung fort. Ich dagegen fühlte mich sofort an etwas erinnert. „Siehst du? Ich bin kein Deut besser als Sylvain", stellte ich fest und spürte erneut den Schmerz in meiner Brust.

„Ich bin ein Mörder! Ich habe ihn umgebracht! Ich! Ich ganz alleine!", schrie ich in den Wald hinein, lies der Verzweiflung in mir freien Lauf. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Cernunnos nickte leicht, wartete, bis ich mich wieder beruhigt hatte. „Es ist in Ordnung, ja? Du musst lernen, damit umzugehen. Lenk dich ab, lerne zu vergessen. Halte durch. Bis Kaltenberg vorbei ist. Danach bist du frei", befahl er gutmütig. Erstaunen machte sich in mir breit. „Wie?", klammerte ich mich an den winzigen Hoffnungsschimmer, den er mir mit seinen Worten gegeben hatte. „Du wirst es schaffen. Du bist eine starke Persönlichkeit. Lass dich von solchen Gedanken nicht unterkriegen. Du hast nichts Falsches gemacht. Ganz im Gegenteil. Du hast sie gerettet", sprach er in extra langsamen, verständlich einfachen Sätzen. Mir wurde klar, dass er versuchte, mich zum weitermachen zu bewegen. „Ich kann nicht...", murmelte ich. Wie konnte ich einfach meine Arbeit fortführen, nach all dem, was passiert war? „Ich würde dir so gerne helfen, aber was soll ich tun? Ich weiß, dass du es nicht hören willst, aber dir sind die Hände gebunden, bis Kaltenberg vorbei ist. Du musst dich durchbeißen. Es geht alles vorbei, ja?", sagte er bestimmt. „Du bist eine unglaublich starke Persönlichkeit, dein Geist ist gesund und kräftig. Ich bin mir sicher, du wirst es schaffen", fügte er noch hinzu, als ich immer noch voller Zweifel war.

Langsam stand ich auf. Meine Motivation war nicht großartig gestiegen. Aber immerhin fühlte ich mich, allein durch seine Anwesenheit nicht mehr so schmutzig. Er tat es mir gleich, kam näher und berührte mich vorsichtig mit der Nase am Arm. Sofort breitete sich ein warmes Gefühl in mir aus. Es dauerte, bis ich es erkannte. Hoffnung und Freude. Die Wärme vertrieb die Dunkelheit in mir, doch brachte sie den Eispanzer um mein Inneres nicht zum Schmelzen. Dankbar senkte ich den Kopf, dann drehte ich mich um und lief zurück.

Zurück blieb nur das merkwürdige Gefühl, dass er so viel gewusst hatte und wie Mario geredet hatte. Aber ich war mir sicher, er war es nicht. Wie konnte Mario Cernunnos sein? Wäre er das gewesen, hätte er sicherlich Nathalie damals retten können. War die unerfüllte Liebe wirklich das Einzige, was sie dazu bewegt hatte? Hatte sie so intensiv jemanden lieben können? Oder war da mehr gewesen, was sie mir verheimlicht hatten?

Doch ich wollte nicht darüber nachdenken. Mit erhobenem Hauptes lief ich zum Stall zurück. Nur noch Kaltenberg. Es war der einzige Gedanke, an den ich mich klammerte. Was danach geschah, lag im Dunkeln für mich. Doch es versprach Hoffnung. Es versprach das Entfliehen von einer Welt, für die ich nicht geschaffen war.

Moondancer - PferdeträumerHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin