36. Lea

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Zuerst raschelte es. Dann knackte ein Ast. Ein grauer Hundekopf schob sich zwischen zwei Sträuchern hervor. Ein großes hundsähnliches Wesen, schwere Pfoten, kräftiger Körper, muskelbepackte Beine. Und doch bemerkte ich ihn erst, als er vor mir stand. Er war größer als ein Hund, viel größer. Im Großen und Ganzen sah es aus wie ein überdimensionaler Wolf.

Neugierig tappte das Tier einige Schritte um mich herum. Vito, der die Anwesenheit des Raubtieres ungefähr genauso teilnahmelos zur Kenntnis nahm wie ich, hob lediglich kurz den Kopf. Es ging etwas Sanftes von ihm aus, etwas Beruhigendes. Dann setzte es sich vor mich hin und starrte mir intensiv in die Augen. Ich starrte zurück. Sein dunkelgraues Fell war dicht und zottelig und verlieh ihm ein wildes Aussehen.

Die Situation war absurd. Ein großer, wolfsähnlicher Hund, vollkommen ohne Halsband oder sonstigen Erkennungsmerkmalen, die ihn als Haustier entlarvten, saß vor mir, als wäre es das Natürlichste der Welt. Als würde er mich schon ewig kennen. Und obwohl es ohne Zweifel ein Raubtier war, hatte weder das Pferd noch ich irgendwelche Angst. Er knurrte schließlich leise und sagte dann mit einer tief grollenden Stimmen: „Komm mit, Hanna". Es verwirrte mich nicht, dass ich ihn verstehen konnte. Irgendwie schien mein Unterbewusstsein es zu wissen. Etwas in mir schien ihn zu kennen. Ohne nachzufragen folgte ich ihm. Der Falbe tat es ebenfalls, was vermutlich auch daran lag, dass ich ihn am Strick hatte. Doch er leistete keinen Widerstand, folgte einfach mit gesenktem Kopf, suchte seinen Weg durch die Sträucher und das Unterholz. Wir liefen eine Weile durch den Wald, gleichmäßig wie auf einer Wanderung. Bis wir schließlich ankamen.

Ein kleines Holzhaus ragte zwischen den Bäumen hervor. Es fügte sich nahtlos in die Umgebung ein, ein Laie hätte es auf den ersten Blick nicht gesehen. Der Wolfshund verschwand im Inneren des Gebäudes, die Tür stand offen. Ich realisierte einen warmen, hölzernen Duft, leichten Wind auf meiner Haut und eine tiefe Beruhigung, als ich näher darauf zuging. Das Grün des Waldes spiegelte sich in den Fenstern wider und leichte Reflektionen der Sonnenstrahlen tanzten auf dem Boden. Von meinem Pferd gefolgt warf ich vorsichtig einen Blick in das Haus. Das Erste, was auffiel war die natürliche Einrichtung. Der Boden bestand lediglich aus festgetretener Erde, die paar Möbel waren aus unbehandeltem Holz gezimmert. Es bestand nur aus einem einzigen Zimmer. Der Hund war auf Anhieb nicht zu sehen, stattdessen saß eine junge Frau am Tisch. Sie lächelte, als ich eintrat. Sie hatte kurze, dunkelblaue Haare und ihre schlanke Figur wurde lediglich von einem dunkelbraunen, schweren Mantel umhüllt, der Ähnlichkeiten mit einem Bademantel hatte, aber keinesfalls aus weichem Frottee bestand.

„Setz dich", sagte sie und klopfte auf den Platz neben sich. Zögerlich kam ich näher, ließ Vito einfach am Eingang stehen, der dort auch stehenblieb. Die Holzbank an dem Tisch fühlte sich hart, aber auch irgendwie total weich an. Als ich mich setzte knarzte es ein wenig. Ich betrachtete den Tisch vor mir, fuhr mit den Fingern die Konturen auf dem Material nach.

„Wer bist du?", fragte ich irgendwann ohne sie anzusehen. „Jemand, den du dringend brauchst. Ich habe dich eine Weile gesucht, denn es ist hier so einsam ohne dich", erklärte sie ruhig und legte mir einen Arm um die Schultern. Federleicht fühlte sich die Berührung an und so unglaublich tröstend. „Hast du auch einen Namen?", bohrte ich weiter, immer noch mit der Konzentration auf dem Muster des Tisches. „Nein, nicht einen. Ganz viele", gab sie rätselhaft zurück. „Und wie soll ich dich nennen?" Ich lehnte mich leicht an sie, so vertraut war diese Geste, dass ich mich ihr einfach hingab. „Lea", antwortete sie ruhig. Ich sah endlich auf. „Ich bin Hanna", erwiderte ich, obwohl irgendetwas in mir wusste, dass ihr mein Name nicht neu war. Sie nickte andächtig. Mein Blick blieb an ihrem Gesicht haften, es wirkte so bekannt, obwohl ich mir sicher war, Lea noch nie vorher gesehen zu haben. „Kenne ich dich?", platzte es schließlich aus mir heraus.

Moondancer - PferdeträumerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt