16. KS

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Zuerst überlegte ich, gleich zu meinem Cernunnos zu fahren, dann verwarf ich die Idee mit einem Blick auf die draußen herrschende Dunkelheit wieder. Während ich mit dem Auto gemütlich unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung zurück zu meiner Wohnung fuhr, bekam ich einen Anruf. Ich war kurz vor Rust, also ging ich dran und stellte auf Lautsprecher, damit ich mich weiter auf den Verkehr konzentrieren konnte. Die digitale Uhr im Amaturenbrett zeigte 23:37.

„Hallo?", meldete ich mich und setzte den Blinker, um die Autobahn in Richtung Rust zu verlassen. „Hi", sagte jemand ruhig und ich hätte mitsamt meinem Gefährt beinahe einen Schlenker in die Böschung gemacht. Meine Gefühle waren auf die plötzliche Intensität nicht vorbereitet. Zum Glück war die Straße leer, sodass niemand etwas von dem kurzen Ausbruch mitbekommen hatte. „Kannst du mich das nächste Mal vorwarnen, bevor du mich anrufst?", fragte ich sanft. Seine Stimme brachte meinen Bauch wieder zum kribbeln, diesmal allerdings im positiven Sinne. Solange er nicht in unmittelbarer Nähe war, hatte ich keine Bauchschmerzen. Ich genoss das sehr. „Tut mir leid", tönte es leise aus meinem Handy. „Aber... Weißt du, ich hatte gerade das unglaubliche Bedürfnis, deine Stimme zu hören", fuhr er fort. Ich stöhnte gequält auf. „Marco, bitte. Ich bin am Autofahren, du nimmst mir gerade etwas von meiner Verkehrssicherheit..." Er lachte auf. „War das jetzt positiv oder negativ gemeint?" „Sieh, wie du es sehen willst. Gerade du kennst meine Gefühle zu dir am Besten" Er seufzte lange. „Ich hasse Fernbeziehungen", kommentierte er schließlich. Bevor ich mich wieder in einem Vortrag darüber auslassen musste, wechselte ich schnell das Thema. „Hör zu, ich rufe dich gleich bei Skype an, ich stehe quasi mit einem Bein schon in meiner Wohnung", wimmelte ich ihn also ab und legte auf, eher er Einspruch erheben konnte. Er trieb mich in den Wahnsinn.

Ich war mir absolut sicher darüber, dass ich ihn immer noch liebte, das angenehme Kribbeln im Bauch und das Gefühlschaos, wenn ich an ihn dachte, verrieten mich. Nicht ständig drehten sich meine Gedanken nur um ihn, wie es oft in Büchern beschrieben war, doch sobald ich wieder an ihn dachte, spürte ich dieses spezielle Marco-Gefühl wieder, welches mich sicher sein ließ, dass ich für ihn alles tun würde. Wenn ich es denn konnte und wenn er keine 700 Kilometer entfernt wohnen würde.

Die Uhr zeigte 23:44, als ich meinen Wagen einparkte und abstellte. Das Licht der digitalen Ziffern verschwand und es wurde etwas dunkler um mich herum, als die Innenbeleuchtung ebenfalls ausging. Ich stieg aus, betrat meine kleine Wohnung und schmiss meine Sachen auf mein Bett. Im Kühlschrank fand ich noch einen Joghurt, den ich mir neben meinen Laptop auf den Tisch stellte. Während ich letzteres hochfuhr, begann ich meinen Mitternachtssnack und starrte ungeduldig auf den Bildschirm, der gemächlich anging. Die Ziffern am unteren Bildschirmrand zeigten 23:49.

Skype öffnete sich automatisch und ich klickte auf Marcos Kontakt, der ganz oben in meiner Liste angezeigt wurde. Sofort nahm er meinen Anruf an und lächelte, als er mich sah. Ich tat es ihm gleich. „Schön, dich zu sehen", begrüßte ich ihn und stellte den inzwischen leeren Becher zur Seite. Er lag bäuchlings auf seinem Bett, die Helligkeit seines Laptops beleuchtete sein Gesicht und einen Teil der dunkelblauen Bettwäsche. Er hatte sein Kinn auf seine verschränkten Hände gebettet und sah direkt in die Kamera, zu mir. „Wie war dein Tag?", fragte er neugierig.

Wieder tauchte dieses dümmliche Lächeln auf meinem Gesicht auf. Es war häufig so, dass ich in seiner Anwesenheit meine Mundwinkel nicht unter Kontrolle halten konnte. Sie zogen sich einfach automatisch nach oben, weil er mich glücklich machte. Ich begann zu erzählen. Redete mir von der Seele, wie es mir ging und er hörte entspannt zu. Wir tauschten später die Rollen, dann erzählte er mir seine Erlebnisse und ich war glücklich, einfach nur seine Stimme zu hören. Es war bereits nach zwei Uhr, als ich endlich den Laptop ausschaltete und mich ins Bett legte.

Dementsprechend übermüdet stand ich irgendwann zwischen acht und neun Uhr an der Arena, um mich um Nevado zu kümmern, der vor dem Besuch der Tierärztin um zehn noch einmal bewegt werden musste, damit er im dem Falle, dass er Medikamente nehmen musste, sich in Ruhe auskurieren konnte. Ich ging wieder mit ihm spazieren, da sein Rücken ihn wieder ärgerte und ich keine bessere Möglichkeit sah, ihn zu bewegen. Denn gerade in der Biegung beim longieren tat es ihm besonders weh. Er war erstaunlich ruhig. Mit hängendem Kopf trottete er hinter mir her und stolperte nur vor sich hin, anstatt wie gewöhnlich mit seiner stolzen Haltung neben mir zu tänzeln. Ich war aber auch nicht besser drauf und hing meinen Gedanken nach. Mit Absicht nahm ich den Weg, der in die Nähe der Lichtung führte, auf der Cernunnos Zuhause war. Ich hoffte, meinen persönlichen Beschützer zu sehen, doch er tauchte nicht auf. Nur ein Reh aus seiner Herde konnte ich erblicken. Sobald es mich aber realisierte, sprang es verschreckt in das Unterholz davon. Auch, als ich kurz stehen blieb um den Weg zu meinem Lieblingsort wiederzufinden, wurde ich enttäuscht. Weder der Weg eröffnete sich mir, noch traf ich das prächtige Tier. Ich wagte sogar, ihn kurz zu rufen, was Nevado neugierig aufsehen ließ, doch ich bekam keine Antwort.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now