26. Im Grunde sind wir alle bedeutungslos

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Dunkel breitete sich der Nachthimmel über unserem Haus aus. Ich konnte nicht schlafen und wanderte wieder rastlos durch die Dunkelheit. Die Lichter der Stadt waren erloschen, ich teilte mir die verlassene Fußgängerzone mit ein paar wenigen Menschen. Nachtschwärmern, müden Gesichtern, vermutlich auf dem Heimweg von einer Party. Ich hatte mir einen dicken Kapuzenpullover übergezogen. Dadurch, dass der Tag wolkenlos war und auch die Nacht, war die gesamte Wärme wieder verschwunden. Abgehauen in die weite des Alls, dessen Sterne sich über mir ausbreiteten wie ein Zelt. Himmelszelt. Zuerst hatte ich überlegt, an das Ufer des Rheins zu laufen, doch bis in die Stadtmitte von Kehl war es ein ganzes Stückchen und ich hatte wenig Lust, so viel zu laufen. Also nahm ich die entgegengesetzte Richtung nach Osten.

Sobald ich aus meiner heimatlichen Ortschaft raus war, erstreckte sich auch schon das großzügige, landwirtschaftlich genutzte Gebiet vor mir. Unterbrochen von den Eisenbahnschienen, der Autobahn und der Bundesstraße. Ich wanderte querfeldein vor mich hin, bis ich schließlich auf den Waldbach stieß. Das kleine Gewässer floss außerhalb von Sundheim. Am Baggersee vorbei, bis es schließlich die Kinzig erreichte, die in den Rhein mündete. Ich setzte mich eine Weile an dessen Ufer, lauschte dem Plätschern des Wassers, so wie ich es bereits heute Mittag gemacht hatte. Nur mit dem Unterschied, dass ich da deutlich glücklicher gewesen war. Mit Marco. Der Gedanke an ihn ließ mein Herz wärmer werden. Ich verspürte keinerlei Müdigkeit, doch trotzdem ließ ich mich nach hinten fallen, sah eine Weile in den Himmel und beobachtete die Sterne. Die vielen, entfernten Sonnen. So weit von uns weg, dass wir sie nur noch als kleiner Punkt warnahmen.

Ich glaubte fest daran, dass es noch weitere Lebewesen im All gibt, neben uns. Vielleicht gab es sogar eine zweite Erde. Vielleicht saß da auch gerade eine junge Frau an einem Fluss und sah in die Sterne. Vielleicht gab es dort auch Moondancer, wer weiß? Bei einer so gigantischen Menge an Sternen, Planetensystem und Galaxien, die neben den Unseren existieren. Wir waren so klein im Vergleich zu der Größe des Universums. So unfassbar klein und bedeutungslos. Was würde es das Universum interessieren, wenn wir unsere Erde kaputt machten? Zeit und Raum sind für unser gesamtes System bedeutungslos. Genauso, wie es damit spielen konnte. Das Raum-Zeit-Kontinuum von Einstein oder wie war das? Wir hatten es doch durchgenommen in Physik, letztes Jahr. Wenn man sich schneller bewegte, alterte man langsamer. Wenn man sich mit einer unendlichen Geschwindigkeit fortbewegen könnte, hätte man ewiges Leben. Aber was interessierte schon ewiges Leben? Wenn man die Größe der Menschheit mit der Größe des Universums vergleicht waren wir alle bedeutungslos. So klein und nichtssagend. Es würde nichts ausmachen, wenn ich sterben würde. Wen würde es schon interessieren? Ja, vielleicht meine Familie, meine Freunde für eine kurze Zeit. Doch irgendwann würden auch diese sterben und die nachfolgenden Generationen und so weiter. Allein drei Generationen, so ein paar Jahre, so ein paar Sonnenumdrehungen, was würde das ausmachen? Nichts. Für die unendliche Zeit, die dem Universum zustand, war diese Zahl absolut bedeutungslos. Meine Taten waren bedeutungslos, mein Denken war bedeutungslos. Im Grunde sind wir doch alle bedeutungslos.

Nur ein Staubkorn in einem Raum. Es könnte so vieles sein, so wenig wissen wir. Vielleicht ist unser Universum auch nur eine Glaskugel in einem Labor. Und wir schwimmen darin, nur ein unfassbar kleines Molekül. Man weiß es nicht. Selbst die wichtigsten Personen auf dieser Erde waren nicht relevant im Vergleich zu dem Universum. Eigentlich machte Leben keinen Sinn. Wenn ich morgen verschwinden würde, dann würde es das Universum nicht merken.

Allmählich wurde mir kalt, also stand ich auf und machte mich wieder auf den Rückweg. Mein Spaziergang war lange genug gewesen. Kurz bevor ich das Ortsschild hinter mir gelassen hatte, bekam ich plötzlich das merkwürdige Gefühl verfolgt zu werden. Verwirrt drehte ich mich um, doch ich war allein. Selbst als ich stehenblieb und lauschte, meine Pferdesinne anstrengte, ich bemerkte nichts Ungewöhnliches. Trotzdem ließ mich dieses Gefühl nicht los, also lief ich schneller.

Der nächste Morgen startete mit vollkommener Übermüdung meinerseits – wie immer. Ich nippte an meinem Kaffee und starrte vor mich hin, bis mich meine Mutter schließlich ermahnte, ich soll endlich gehen, sonst würde ich zu spät zum Unterricht kommen. Missmutig schnappte ich mir die Autoschlüssel und machte mich auf den Weg.

Der Schultag endete wie er begonnen hatte, müde und im Auto. Nur war ich dieses Mal unterwegs nach Rust. Dort, in der Umkleide, empfing mich eine aufgebrachte Marion. Sie lief wie wild auf und ab, raufte sich von Zeit zu Zeit die Haare und murmelte irgendetwas von Inkompetenz vor sich hin. Ich ließ mich erst einmal auf einen der weißen Plastikstühle fallen, die hier rumstanden und legte die Füße auf den kleinen Tisch, den Ludo manchmal nutzte, um in den Pausen Karten zu spielen. Oder der einfach genutzt wurde, um irgendwelche Klamotten darauf zu werfen. Als Marion noch nicht einmal stehen blieb, um mir Hallo zu sagen, räusperte ich mich betont laut und wartete, bis ich zumindest einen Teil ihrer Aufmerksamkeit hatte. „Was ist passiert?", wollte ich dann wissen. Sie schmiss die Hände in die Luft. „Lena", knurrte sie schließlich. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Lena ist passiert", wiederholte sie dann. „Und was ist daran so schlimm?" Verwundert folgte ich ihren, wieder begonnenen, Bewegungen. Wie ein Elefant stapfte sie wütend durch den Raum. „Ich darf diese Unfähigkeit in Person ausbilden! Ich! Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte..." Mit einem beträchtlichen Rumms ließ sie sich in den Stuhl mir gegenüber fallen und überkreuzte demonstrativ die Arme. „Das machst du doch jetzt schon seit einer ganzen Weile", erwiderte ich verwirrt. „Und außerdem: Das hast du bei mir doch auch gemacht..."

Ich mochte Lena immer noch sehr gerne. Und dass Marion so frenetisch eifersüchtig war, störte mich gewaltig an ihr. „Bei dir ist das etwas anderes. Du hast Talent dafür, du bist wenigstens einigermaßen dafür geeignet. Aber Lena ist echt eine Versagerin!" Sie zitterte ein wenig vor Wut. „Ja, und? Das ging doch bisher immer gut!", erwiderte ich, immer noch verwundert über ihren Ausbruch. Dabei war die Sache recht einfach. Es war Marions Ego, das da sprach. Dieses war nämlich extrem angekratzt. Seitdem Lena aktiv in der Show mitwirkte, hatte sie ihre Position als absoluter Liebling verloren. Vitos wunderschöne Fellfarbe und Lenas ansteckendes Lachen waren nur zwei Highlights, die Arenafans nun ebenfalls entgegenfieberten. Sie war einfach eine weitere Darstellerin der Lady Isadora, die sich nicht neben Marions Perfektion verstecken mussten. Und das ging ihr gewaltig gegen den Strich. All die Jahre war sie die unangefochtene Nummer eins gewesen und jetzt war das jedoch vorbei. Allerdings mochte sie mich zu sehr, um deswegen sauer auf mich zu sein. So entlud sich ihr gesamter Zorn über der anderen, deutschen Stuntfrau. Aber warum das gerade heute passieren musste, war mir ein Rätsel. Irgendetwas hatte Lena gemacht, was ihr nicht gepasst hatte. „Da hat sie sich auch nicht so an meinen Freund rangemacht!", fauchte Marion vollkommen entrüstet. Erneut legte ich fragend den Kopf schief. „Hää?", unterstützte ich mein komplettes Unverständnis. „Sie hat die erste Show gemacht. Und sich am Ende, bei der Kussszene, die nicht einmal ein echter Kuss sein soll, voll in Szene gesetzt und Charles definitiv zu viel berührt, um es als normales, kollegiales Verhältnis zu sehen!", brauste sie auf. Oha. Da war aber jemand total eifersüchtig.

„Komm schon... So schlimm ist es bestimmt nicht gewesen. Das war bestimmt nur Show, sie würde nie versuchen, dir den Freund auszuspannen. Also ich mag sie.", versuchte ich meine aufgebrachte Freundin zu beruhigen. „Boah, Hanna! Schlag dich jetzt nicht auf ihre Seite!", knurrte die Blonde vor mir. Ich seufzte genervt auf. „Es gibt keine Seiten, Marion. Ich bin neutral. Und wenn ich sie mag, weil sie nett ist, heißt das nicht, dass ich dir den Rücken zukehre.", unterbrach ich sie zornig. Langsam regte mich ihr kindisches Verhalten in diesem Fall auf. „Wenn du so gut mit ihr auskommst, dann kannst du sie ja trainieren!", fuhr Marion nicht minder wütend fort. Ich verdrehte die Augen. "Du weißt genau, dass ich das nicht kann-" „Dann lern es!", schoss sie zurück. „Sag mal... Bist du die Ältere oder ich? Kannst du nicht einmal über deinen Schatten springen, etwas von deinem Stolz zur Seite legen und Anderen etwas gönnen?!", schrie ich sie nun ebenfalls an. „Hanna?", fragte sie ruhig. Zu ruhig. Eine ungute Vorahnung beschlich mich. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Ich blickte in ihre grünen Augen, die vor Wut funkelten. „Du kannst mich mal!", fauchte sie und verließ den Raum. Nicht ohne mir noch den Mittelfinger zu zeigen und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuzuschlagen. Genervt stöhnend lehnte ich mich zurück. Damit war unsere Freundschaft vorerst also erst einmal beendet. Na, super. Hatte ich ja toll hinbekommen.

Während ich mich innerlich beglückwünschte, kam ich nicht umhin, sie auch ein wenig für ihr feuriges und selbstbewusstes Temperament zu bewundern.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now