50. Ronya, fille de brigands

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Manchmal war Zeit unbedeutend. Und manchmal war jede Sekunde wichtig.

Marion fing mich auf, sie ignorierte alles, was jemals passiert war und begann, mir die schönen Seiten des Lebens zu zeigen. Und damit meinte ich nicht die Seiten meines bisherigen Lebens, sondern die Seite vollkommen ohne Pferd und Moondancer. Ich verdrängte meine Fähigkeiten, verbrachte nicht mehr jede freie Minute im Stall, um mit den Pferden zu reden, sondern saß jetzt oft mit meinen Kollegen abends zusammen, spielte Karten und ließ mich hin und wieder sogar zu einem Glas Wein überreden. Früher hatte ich Alkohol weder gemocht noch vertragen, doch ich gewöhnte mich daran. Ich lauschte ihren Erzählungen von Freunden, von Familie und dem ganzen Leben außerhalb ihres Berufes und den Pferden und begann selbst aktiver Beruf und Freizeit zu trennen. An einem freien Nachmittag nahm Marion mich mit nach Augsburg, zu einem ausgiebigen Frauennachmittag, der mit einem Friseurbesuch begann.

„Und, nur Spitzen oder eine ganz neue Frisur?", fragte meine Freundin, als wir vor dem Laden standen. Ich legte den Kopf schief und tat so, als würde ich nachdenken. Dabei war mir schon beim Anblick auf das Geschäft die Spontanidee gekommen, die ich mit Sicherheit hinterher bereuen würde. „Ich denke, es wird Zeit für eine Veränderung. Was hältst du von einer Kurzhaarfrisur?", sprach ich eben jene Idee aus. Entsetzt riss Marion die Augen auf: „Deine schönen Haare! Die willst du doch nicht abschneiden!" „Warum nicht?", sagte ich schulterzuckend und zeigte ihr die Länge mit Daumen und Zeigefinger. „So kurz, ungefähr zehn Zentimeter" „Du bist verrückt!", brachte die Blonde nur heraus. „Wächst doch wieder nach", meinte ich gleichgültig und zog sie hinter mir in den Laden. Kopfschüttelnd folgte sie mir.

Etwa eine Stunde später konnte ich das Gebäude mit einem breiten Grinsen wieder verlassen. Tatsächlich ging mir meine Mähne nicht mehr bis mitten auf den Rücken, sondern jetzt nur noch bis knapp unter die Ohren. Die Friseuse hatte mir die verbliebene Länge zu einer leicht verwuschelten, aber modischen Frisur gestylt und es gefiel mir so echt gut. Und vor allem war es auf dem Kopf viel leichter und luftiger als vorher, was ich sofort als Vorteil sah, denn die sommerlichen Temperaturen waren inzwischen beinahe unerträglich geworden. Und außerdem fiel meine silberne Strähne damit kaum noch auf. Manchmal veränderte eben nur eine kurze Zeitspanne dein gesamtes Aussehen und hat so Einfluss auf viele unbedeutende Momente deines Lebens.

Selbst Marion gab zu, dass es gar nicht so schlecht aussah, meinte dann aber grinsend, dass ich dann die erste Prinzessin der Arena sein würde, die eher wie eine Ronja Räubertochter aussieht als eine Königstochter. Mir war das egal. „Wenigstens passt es zu meinem Image als Waldelfe in Kaltenberg", kommentierte ich dazu belustigt und damit war das Thema dann auch für uns abgeschlossen. Wir gingen noch ein Eis essen und ein wenig die Einkaufspassage unsicher machen. Was man an einem typischen Frauennachmittag eben unternahm.

Es war schön. Früher hatte ich Menschenansammlungen oder Großstädte gemieden, weil ich durch meine scharfen Pferdesinne viel zu viel wahrgenommen hatte. Für mich war das immer selbstverständlich gewesen, doch seit dem Tag, an dem Sylvain in der Arena aufgetaucht war, konnte ich sie immer besser verdrängen und meine menschliche Seite hervorholen, die so viel angenehmer war. Früher hatte ich immer davon geträumt, mal irgendwo in einem einsamen Haus inmitten von Wäldern zu leben, inzwischen war mir das nicht mehr wichtig. Mit jedem Tag genoss ich das menschliche Leben mehr. Die abgestumpften Emotionen, hervorgerufen durch eine bessere Selbstbeherrschung, die schwächere Wahrnehmung von Eindrücken, die es mir nun ermöglichten, einen Teil der Geschehnisse zu ignorieren, und vor allem die gleichmäßige Gefühlslage. Früher, bevor ich mich verwandelt hatte, war all das nicht so ausgeprägt gewesen, doch schon deutlich mehr als bei normalen Menschen, was ich aber erst sehr spät realisiert hatte. Wenn man mit all dem aufwächst, ist es für einen selbst normal. Doch dann kam die erste Verwandlung. Und von nun an hing mein Leben von dem Mondzyklus ab. Die erste Hälfte vor Vollmond spürte ich, wie mit jedem Tag meine Sinne wieder sich denen eines Pferdes anglichen und die zweite Hälfte, wenn der Mond wieder abnahm, wurde ich immer mehr Mensch.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now