15. Treffen mit Sylvia

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Der Tag verlief anstrengend, wie gewöhnlich. Ich übernahm zwei Shows und da ich langsam an den Ablauf des Spektakels gewöhnt war, lief es auch ganz gut. Gewöhnlich bevorzugte ich ein erfahrenes Pferd, hatte heute aber auch eine halbe Show auf Nevado geritten, der ebenfalls bewegt werden musste und dessen Rücken heute keine großen Schwierigkeiten gemacht hatte. Der Tierarzt würde morgen kommen, denn langsam machte ich mir wirklich Sorgen um den hübschen Schimmel. Lena war nicht Besonders viel weitergekommen, da sie keinen guten Tag gehabt hatte. Zweimal war sie während dem Training vom Pferd gefallen, hatte jedoch keinerlei Verletzungen davon getragen. Es hatte sowieso mehr danach ausgesehen, als ob ihr Sturz gewollt war. Typisch Stuntfrau.

Am Abend fuhr ich mit dem Auto zu Sylvia. Oppenau war ein gutes Stückchen entfernt, doch ich wusste noch genau, wo es sich befand. So groß war der Ortenaukreis auch wieder nicht und schließlich hatte ich die Strecke mit meinem Pferd letztes Jahr zurückgelegt. Es fühlte sich an, als wären seit dem Jahrhunderte vergangen, doch es war nicht mehr als ein halbes Jahr. Ich hatte noch ungefähr im Hinterkopf, wo sie wohnte, hatte mich aber nicht angekündigt. Hoffentlich hatte sie Zeit. Ihr Haus erkannte ich schnell wieder. Die alte Dame saß auf einer Bank davor, stützte sich auf einen Gehstock und lächelte mich freundlich an, als ich näher kam. Sie sah noch fast genauso aus wie letztes Mal, doch irgendetwas war anders. Ich parkte das Auto auf dem Gehweg, stieg aus und kam zu ihr. „Guten Abend, Hanna", grüßte sie mit einem Lächeln auf den schmalen Lippen. „Hallo, Sylvia!", antwortete ich genauso freundlich und musterte sie. Sie sah eindeutig anders aus. Die Luft um sie herum flimmerte merkwürdig, als würde ich nur eine Illusion sehen und nicht sie selbst. Misstrauisch sah ich mich um, doch es schien mich niemand ärgern zu wollen. Stattdessen schien diese Illusion von ihr irgendwie auch echt zu sein, denn es ging eine menschliche, vertraute Wärme von ihr aus. Sie fühlte sich an wie ein Mensch, aber doch schien ihr Abbild vor meinen Augen zu flimmern. „Du siehst, dass es nur eine Maske ist, oder?", fragte sie, als sie meine nachdenklich gerunzelte Stirn bemerkte. „Ist es denn das?", gab ich zurück und sie nickte. „Ja, letztes Mal hast du es noch nicht gemerkt. Ich sehe, du bist mit deiner Magie viel vertrauter geworden seit wir uns das letzte Mal getroffen haben", erklärte sie langsam und erhob sich schwerfällig von der Bank. Helfend bot ich ihr einen Arm an, doch sie lehnte ab. „Bis zum Haus kann ich noch laufen..." „Was ist mit dir passiert? Du wirktest auch viel gesünder das letzte Mal", fragte ich wie beiläufig, doch sie zuckte mit den Schulter. „Du musst wissen, ich habe dich angelogen... Ich bin keine ungefähre 120, ich bin 137 Jahre alt. Das Pferd in mir hat meinen Alterungsprozess nur um 42 Jahre aufgehoben. Dann kannst du dir ausrechnen, wie alt ich eigentlich bin", sagte sie mit einer rauen, kratzigen Stimme. Um Gottes Willen, das hieß, ihr Körper war 95 Jahre alt. „Aber wieso hast du mich angelogen?" Ich hielt ihr die Tür auf, als sie eintreten wollte. „Weil ich nicht wollte, dass du dir Sorgen machst. Schließlich solltest du noch jemanden haben, der dir im Notfall das ein oder andere erklären kann. Es ist immer gut, eine erfahrene Person im Rücken zu haben. Hättest du das letzte Mal schon gewusst, wie es um mich steht, hättest du mich nach Allem gefragt, was wichtig ist. Doch du musst dein Talent erst selber entdecken, bevor du mich danach ausfragen kannst" Sie winkte mich zu sich und ging langsam in die Küche. „Willst du schon einmal den Tee aufgießen? Ich hole schnell etwas, dann beantworte ich dir deine Fragen" Sie ging langsam auf ihren Stock gestützt davon. Mein Blick glitt durch den Raum. Es hatte sich kaum etwas verändert. Selbst die Tischdecke war noch die Gleiche. Es war für zwei Personen gedeckt und als die alte Teekanne zu pfeifen begann, machte ich mich schnell daran, das heiße Wasser auf altmodische Art anzusetzen. Alles war so, als hätte sie mich erwartet. Doch woher hätte sie wissen können, dass ich komme?

Ich schenkte das heiße Getränk in die beiden Tassen auf den Tisch und setzte mich dann wartend auf den Stuhl. Das klackernde Geräusch ihrer Gehhilfe verriet, dass sie wiederkam. Die knochigen Finger ihrer linken Hand hielten einen Stapel Blätter, den sie vorsichtig und feinsäuberlich vor mich legte. „Ich hatte keine Zeit, es binden zu lassen, doch das ist ein Buch über alles, was ich über uns weiß. Eine Art Handbuch über Mondtänzer", erklärte sie mir und setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl. Erstaunt sah ich den Stapel an. „Das ist eine ganze Menge", sagte ich beeindruckt. „Ich schreibe da schon eine Weile dran. Ich brauchte eine Beschäftigung. Mein Körper kann sich längst nicht mehr so bewegen wie vor vielen Jahren, doch mein Verstand ist so klar wie immer. Vielleicht sogar klarer. So war ich noch zu etwas Nutze" Sie hielt inne und atmete tief ein: „Erschreck dich jetzt bitte nicht, ich lasse meine Maske fallen" Ihre Gestalt verschwamm etwas, dann wurde sie wieder klar. Diesmal ohne Flimmern. Und obwohl sie mich vorgewarnt hatte, zuckte ich doch ganz kurz zurück. Sie sah auf einmal so unfassbar alt und gebrechlich aus. Die Falten in ihrem Gesicht waren tiefer geworden, die Augen waren eingefallen, die Lippen schmal. Ihr Haar war nur noch ein Schatten seiner selbst, das Weiß schien fast durchsichtig und so dünn, dass ich ihre fleckige Kopfhaut darunter sah.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now